Süddeutsche Zeitung

Neues Buch gegen Authentizitätswahn:Wie jammert ein Mann?

Es kommt darauf an, was jemand tut, nicht, was er ist, Dummkopf! Der Literaturwissenschaftler Erik Schilling kritisiert unterhaltsam den Echtheitswahn der Gegenwart. Seine Analyse hat nur einen blinden Fleck.

Von Moritz Fehrle

Jack White ist es, Greta Thunberg ist es und das Naturerlebnis im Alpenurlaub ist es natürlich auch. Als Gegenpol zur inszenierten medialen Welt gilt das Authentische. Denn echt und damit bewundernswert erscheint uns besonders, wem es gelingt, sich den digitalen Konventionen zu entziehen. "Digitalisierung bedeutet 'Fake', Globalisierung bedeutet Ungebundenheit", schreibt der Münchner Literaturwissenschaftler Erik Schilling in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der "Authentizität", die er als "die Sehnsucht unserer Gegenwart" betrachtet. Wie viele biografische Ich-Erzählungen würden als ungefilterte Einblicke beworben, wie viele Filme vermarkteten offensiv, dass sie "auf einer wahren Begebenheit" basieren? Selbst im erstarkenden Populismus spiele die Feier des Unverstellten und Wahrhaftigen eine bedeutende Rolle: "Als authentisch, nicht als professionell, präsentieren sich (zumindest in meiner Wahrnehmung) Donald Trump in seinen Tweets, Nigel Farage in seiner EU-Verachtung und Matteo Salvini, wenn er Fotos von sich in Badehose zeigt."

Dabei verrate, so Schilling, ausgestellte Authentizität nicht automatisch besonders viel über eine Person oder eine Sache. Als authentisch werde nämlich schlicht dann etwas empfunden, wenn Erwartung und Erfahrung übereinstimmten. Rückschlüsse ließen sich daher meist weniger über das Beobachtete als über den Beobachter ziehen. Als Sehnsucht nach Entschleunigung, nach Kontrolle und Vertrauen sei Authentizität ein positiv besetzter Begriff, der sich jedoch nicht nur in seinem populistischen Element als problematisch erweise.

Schilling kritisiert die Authentizitätszuschreibung als eine Form der Wahrnehmung, die nicht nur den eigenen Blick verenge, sondern auch einen Wahrheitsanspruch erhebe, wie Erlebnisse und Biografien geschildert werden müssten. Als starres Konstrukt lasse sie wenig Spielraum für Widersprüchlichkeiten. Zudem erhebe sie Anspruch auf einen zweifelsfrei feststellbaren, unveränderlichen persönlichen Kern eines Menschen.

Scharfzüngige Kommentare

Eine ähnliche Kritik an so starren Denkmustern kommt häufig aus feministischen und postmigrantischen Kreisen. Schillings Auseinandersetzung mit den Konzepten Performanz und Identität fällt aber ernüchternd kurz aus. Der Autor beklagt "ein quasi voyeuristisches Interesse" vieler Leser am vermeintlichen Authentischen in der Literatur, übergeht aber, dass nicht zuletzt die zunehmende Inklusion marginalisierter Stimmen die bemerkenswerte Konjunktur des authentischen Erfahrungsberichtes antreibt. Die sich daraus ergebenden Verschränkungen und Konflikte von Identitätspolitik und Authentizität reißt er an mehreren Stellen kurz an, ohne ihnen leider wirklich nachzugehen.

Schillings Authentizitätskritik fällt so in ihren Beobachtungen teilweise arg schnodderig aus. Auch wenn man allerdings hier und da Differenzierung und Trennschärfe vermisst, arbeitet sich Schilling an sprachlichen Klischee und deren gesellschaftlichen Folgen immer wieder sehr unterhaltsam ab. Dabei spart er nicht an Spitzen gegen führende Vertreter des Authentizitätsbooms. Die Kapitelüberschrift "Wie jammert ein Mann?" beantwortet er mit Blick auf den norwegischen Bestsellerautor Karl Ove Knausgård mit der Bemerkung: "In sechs Bänden".

Sollte uns wirklich nur das Handeln einer Person interessieren?

Andernorts gerät der Versuch, die eigenen Befunde zu veranschaulichen, an Grenzen. Schilling bleibt ein Literaturwissenschaftler und ist als Beobachter von Sprach- und Bedeutungsmustern überzeugender als bei psychologischen Erklärungen der Natur des Menschen. Auf die mitunter eher schlichten Schlüsse an den Kapitelenden hätte man ebenso verzichten können wie auf einige der bemühten Pointen und provokanten Brüche mit den Konventionen der sachlichen Erzählung. Manchmal wirkt es fast, als sollten sie darüber hinwegtäuschen, dass die Verklärung des Authentischen ebenso wenig ein so neues Phänomen ist wie die daran geäußerte Kritik. Was Schilling dennoch gelingt, ist eine lesenswerte Überblicksdarstellung und teils scharfzüngige Kommentare.

Am Ende steht ein Plädoyer für Professionalität, situativ angepasstes Verhalten und Ambiguitätstoleranz. Das Handeln, nicht das Sein, sollten unsere Wahrnehmung und Bewertung von Personen bestimmen. Das klingt vernünftig, ist aber keine unverfängliche Forderung. Was in diesem Leitsatz mitschwingt, führt Schilling selbst vor, wenn er gegen paritätische Quoten argumentiert und in seinen Augen stereotype Selbstdarstellungen von Homosexualität kritisiert. Eine Bewertung ausschließlich anhand des Handelns lässt sich leicht fordern, wenn man in der öffentlichen Wahrnehmung nicht beständig auf sein Sein - und damit seine einmal zugewiesene Rolle - zurückgeworfen wird. Ein solcher Leitsatz wird allzu leicht zur Rechtfertigung, die gesellschaftliche Manifestation von struktureller Ungleichheit und vorherrschenden Klischees zu leugnen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5153968
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/crab
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.