Authentizität:Authentizität, die Soft Power des Kapitalismus

People stretch as they take part in a yoga class across the Hudson River from New York's Lower Manhattan and One World Trade Center in a park in Hoboken, New Jersey

Einmal kurz für ein paar Momente aus dem Treiben und dem Druck der Leistungsgesellschaft ausklinken: ein Yoga-Kurs in New York, der Welthauptstadt des Kapitalismus.

(Foto: REUTERS)

Vom Fußballklub über den Porno bis zum Politiker: Alles muss heute authentisch sein. Dabei ist die Sehnsucht nach Echtheit kaum mehr als ein trügerischer Unterdrückungsmechanismus.

Von Julian Dörr

Die Löwen sind zurück. Im Stadion an der Grünwalder Straße. An der Kreuzung zur Tegernseer Landstraße. Wie schön das alles klingt. So heimatverbunden. So idyllisch. So authentisch. Ganz anders als die alte Adresse: Allianz Arena, Werner-Heisenberg-Allee 25. Wo jetzt nur noch die fiesen global player vom FC Bayern spielen. Wenn sie nicht gerade in China unterwegs sind, um neue Absatzmärkte für ihre Trikots, Schals und Waschbeckenstöpsel ("Der Hingucker für alle handelsüblichen Waschbecken") zu erschließen. Ganz anders in Giesing, bei den Löwen von 1860 München, wo man jetzt wieder im bislang nur sanft gentrifizierten Wirtshaus in Hörweite des Fußballstadions sitzt.

Mit ihrem Auszug aus der Fröttmaninger Arena zurück ins ursprüngliche Biotop haben die Löwen den Authentizitätsstempel bekommen, das Bio-Siegel des gesellschaftlichen Diskurses. Das ist einiges wert in unserer Zeit. Denn wir leben in einer Gesellschaft des Authentizitätskults. Wir fetischisieren das Echte, wir sehnen uns nach Ursprünglichkeit, nach den guten, wahren, einfachen Dingen. Vom Olivenöl aus dem kleinen Hain am Gardasee über den verwackelten Amateurporno bis zum Politiker. Was uns nicht authentisch erscheint, taugt auch nicht. Authentizität ist zur Messgröße für ein gutes Leben geworden.

Authentizität ist heute ein Gütesiegel für Produkte, eine Währung

Allein, Authentizität ist eine Illusion, ein leerer Begriff, der weder für den Diskurs noch zur Lebensmaxime taugt, weil er sich an allen Ecken auflöst, wenn man ihn ein bisschen beansprucht. Was genau soll Authentizität sein? Ein anderes Wort für Echtheit? Und was ist eigentlich echt? Dieses Dilemma ist bekannt und in vielen Debattenbeiträgen diskutiert. Viel interessanter ist jedoch die Frage, was die Sucht nach Authentizität mit unserer Gesellschaft macht.

Karriereratgeber und Selbsthilfebücher verbreiten das Mantra: Sei authentisch. Sei du selbst. Sei ehrlich! Dann kommst du voran im Beruf, dann steigst du auf, dann klappt das mit den Beziehungen und dem Glück. Auf der Suche nach Ursachen für diesen Drang zum Ursprünglichen landet man zwangsläufig bei Karl Marx. Der stellte die Theorie auf, dass der Kapitalismus und seine auf Profitmaximierung ausgelegte Produktionsweise den Menschen entfremdet - vom Produkt seiner Arbeit und auch von sich selbst. Diese Vorstellung hält bis heute an.

Das spätkapitalistische Ich ist ein fluides Subjekt. Wir haben unsere Identität aufgeweicht und aufgelöst. Ich bin ich. Ich kann aber auch ganz schnell ein anderer sein. Ich bin heute nicht mehr Journalist. Ich arbeite gerade als Journalist. Ich bin kein Münchner, ich lebe seit fünf Jahren in München. Halt und Identität in unseren flexiblen Zeiten beziehen wir aus anderen Quellen. Aus all den echten, ehrlichen und authentischen Dingen, die wir tun. Und mit denen wir uns umgeben.

Authentizität, das ist ein Gütesiegel für Produkte, die man uns verkaufen will. Authentizität, das ist heute eine Währung. Mit ihr lässt sich im kapitalistischen Warenmarkt der Wert einer Sache bestimmen. Je authentischer, desto besser. Das gilt für Butter genauso wie für Gangsterrapper. Die Butter von der hochalmgrasfressenden Bergbauernkuh schlägt das Discounterprodukt. Und der straßengeschulte Junge aus dem Problemviertel schlägt das rappende Mittelstandkind.

Es muss nun aber keineswegs so sein, dass die Butter von der Bergbauernkuh tatsächlich in traditioneller Bergbauernweise hergestellt und mit der Holzkarre ins Tal befördert wurde. Es reicht schon die Abbildung auf der Butterpackung von der Kuh, dem saftigen Gras, dem Butterfass und der Holzkarre, damit unser Authentizitätsreflex ausgelöst wird. Die Löwen sind immer noch eine Kommanditgesellschaft auf Aktien mit einem jordanischen Investor - auch wenn sie mittlerweile wieder in der alten Heimat Giesing spielen. Die Menschen wissen das: und stehen trotzdem Schlange.

Der Generalverdacht der Verlogenheit

Das Perfide am Hin und Her mit der Authentizität ist ja, dass uns der Kapitalismus erst vom Objekt der Begierde entfremdet, damit die Sehnsucht danach weckt, und es uns dann wieder verkaufen will. Er gibt uns Problem und Lösung. Krankheit und Heilmittel in einem. Oder in anderen Worten: Mit der Authentizität und dem Kapitalismus ist es ein bisschen so wie mit der Erbsünde und der katholischen Kirche. Erst erschafft man die Schuld, dann verspricht man den Exklusiv-Deal für die Erlösung - ein genialer Unterdrückungsmechanismus.

Authentizität ist so etwas wie die Soft Power des Kapitalismus. Mit ihr besiegt er seine Gegner, nicht indem er sie offen angreift, sondern indem er sie vereinnahmt, überzeugt und für sich gewinnt. Man kann das sehr gut am immer noch ungebrochenen Achtsamkeitstrend beobachten. In Großbritannien sind die Verkaufszahlen von Büchern zu diesem Thema im Jahr 2017 um 13 Prozent gestiegen - mehr als in allen anderen Genres. Yoga, Meditation, Selbsthilferatgeber. All das sind Hilfsmittel, mit denen man sich eigentlich für ein paar Momente aus dem Treiben und dem Druck der Leistungsgesellschaft ausklinken will. Einmal aussteigen aus dem täglichen Kampf. Authentisch sein, echt sein. Nun hat unsere Sehnsucht aber eine regelrechte Achtsamkeitsindustrie erschaffen, die sich wiederum wundervoll in das System einfügt, das sie eigentlich verdammt. Kauf dieses Buch, diese Matte, diesen Kurs, dann wird dein Leben besser!

Gesellschaftliche Besessenheit mit Authentizität hat einen Trump möglich gemacht

Authentizität ist also ein Luftschloss. Eine hübsche Illusion, die man jedoch leicht entlarven kann. Richtig problematisch wird die Sache erst, wenn wir uns aus der persönlichen Sphäre in die politische begeben. Unsere Politiker sollen authentisch sein. Keine Inszenierungen, keine Ränkespiele in den Hinterzimmern. Wir wollen echte Gefühle von echten Menschen, echte Reaktionen, aus echten Bäuchen heraus. So wie bei Sigmar Gabriel, der einst in einem TV-Interview nach einem Mitgliederentscheid der SPD die ZDF-Moderatorin Marietta Slomka anging. Das Verhalten des SPD-Politikers wurde zwar auch kritisiert, sein Ausbruch wurde aber größtenteils als "authentische" Reaktion rezipiert, der dadurch mehr Wert und Bedeutung innewohnte als dem herkömmlichen konsensorientierten und eher verfloskelten Politiker-Talk.

Diese Unterscheidung jedoch ist höchst problematisch. Indem man solche angeblich authentischen Momente hervorhebt, stellt man den Rest des politischen Systems unter den Generalverdacht der Verlogenheit. Wenn im Ausbruch das Authentische, das Echte steckt, dann ist der Status quo die Lüge. Diese Haltung liefert wiederum den Nährboden für den Aufstieg von selbsternannten Anti-Establishment-Kämpfern. Die gesellschaftliche Besessenheit mit Authentizität hat eine Figur wie Donald Trump überhaupt erst möglich gemacht. Sein "Klartext"-Populismus, seine Wir-gegen-die-da-oben-Rhetorik, sie spielt mit der Sehnsucht nach Echtheit und Authentizität.

In Donald Trump löst sich die ohnehin schon paradoxe Vorstellung von Authentizität vollends auf. Seine Anhänger halten ihn für einen "Mann des Volkes". Für einen, der echt und geradeheraus ist, der sich nicht verbiegt, der immer bei sich ist. Das Problem ist jedoch: Trump widerspricht der Idee von Authentizität bis in den Kern. Authentizität, das ist die Abwesenheit von Verlogenheit. Man kann viel sagen über Donald Trump, aber dass die Wahrheit das Polit-Mittel seiner Wahl sei, das nun wirklich nicht.

Authentizität ist ein sehr vager Begriff, der keiner Diskussion oder Analyse standhält. Und der aufgrund seiner Schwammigkeit und Ambivalenz für viele eigentlich widersprüchliche Zwecke instrumentalisiert werden kann. Authentizität sollte deshalb auch keine Maxime sein, von der eine Gesellschaft sich leiten lässt.

Was nun nicht bedeutet, dass wir nicht mit den Löwen im Giesinger Stadion feiern können. Wir können Bergbauernbutter kaufen, Yoga machen, achtsam leben. Wir sollten dabei nur nicht vergessen, wohin uns der Drang nach Echtheit und Ursprünglichkeit führen kann. Und im Zweifel eben auch mal für den Zweifel und die eigene Zerrissenheit einstehen, um den großen deutschen Pop-Lyriker Dirk von Lowtzow zu paraphrasieren. Ein anderer großer Pop-Deutscher, der ewige Maskenmann Harald Schmidt, antwortete einmal auf die Frage nach dem wahren, dem authentischen Selbst: "Wer soll man denn sein? Wer ist denn schon wer?" Recht hatte er. Ich ist niemand. Und niemand ist authentisch.

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