"Austerlitz" im Kino:Selfies im Krematorium

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Das beliebteste Fotomotiv in Sachsenhausen: das Eingangstor mit dem Schriftzug "Arbeit macht frei". (Foto: Verleih)

Wie bebildert man das Grauen im Angesicht fotosüchtiger Massen? In seinem Dokumentarfilm "Austerlitz" porträtiert Sergei Loznitsa den Tourismus im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen.

Von Philipp Stadelmaier

Schon am Eingang posieren die Leute vor dem Schriftzug "Arbeit macht frei". Machen ein Bild, nein zwei, das erste war nichts. Dann hurtig weiter, denn hinter ihnen stehen schon andere in der Schlange, um sich und die ihren vor dem begehrten Motiv abzulichten. Es ist überall das gleiche Spiel: Hinter den Fenstern der Baracken werden die Selfie-Sticks ausgefahren, vor den Pfählen, die jenen ähneln, an denen die SS einst Gefangene aufknüpfte, formieren sich Kamerafronten. Die spanische Touristenführerin ist kaum fertig mit ihrem Bericht vom grausen Tod eines Gefangenen durch Erhängen, da stellen sich schon die ersten hin und imitieren den Vorgang. So hing es sich damals also! Ein anderes beliebtes Motiv sind Erinnerungsschnappschüsse vor den Krematorien. Willkommen in der Gedenkstätte des KZ Sachsenhausen, in dem die Nazis einst Zehntausende Menschen ermordeten.

Hier hat der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa seinen Dokumentarfilm "Austerlitz" gedreht und gefilmt, wie sich die Touristenströme durch die Gedenkstätte bewegen, in statischen Schwarz-weiß-Einstellungen. Herausgekommen ist ein ebenso simpler wie faszinierender Film, der eine alte Gretchenfrage neu stellt: Wie kann das Kino, wie können Bilder dem Morden der Nazis in Konzentrationslagern überhaupt gerecht werden?

Das Grauen bebildern

Spielfilmregisseure wie Steven Spielberg und Roman Polanski haben versucht, das Grauen zu bebildern, Loznitsas Kollege Claude Lanzmann hatte jede bildliche Darstellung des unvorstellbaren Horrors als mögliche Verfälschung scharf abgelehnt und in seiner Doku "Shoah" ausschließlich auf Zeugenberichte Überlebender gesetzt. Loznitsa filmt in "Austerlitz" ein wenig wie Lanzmann nur die heutigen Örtlichkeiten, ohne das frühere Geschehen rekonstruieren zu wollen. Aber gleichzeitig zeigt er, dass sich die Frage nach der Darstellbarkeit oder Undarstellbarkeit langsam in Luft auflöst, im Angesicht der fotosüchtigen Massen, die sich heute durch die Erinnerungsstätten bewegen.

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Nun kann man sich schnell echauffieren über diese Bilder. Während ein Guide auf Spanisch vom Hitler-Attentäter Georg Elser erzählt, der hier einsaß bevor er in Dachau ermordet wurde, balanciert eine junge Frau eine Wasserflasche auf dem Kopf. Und als eine Führerin die Schmerzensschreie der Insassen schildert, hört man im Hintergrund ein Lachen. Man kann durchaus eine moralische Perspektive einnehmen in diesem Film. Es mangelt an Kultur, es mangelt an Anstand, und es mangelt, mit Blick auf die Sommerklamotten des einen oder anderen, auch an Stil. Das einzige, woran es offenbar nicht mangelt, sind Smartphones und Kameras.

Aber diese Moralisierung ist nicht das Hauptanliegen des Films. Sie ist eher ein zusätzlicher Effekt durch die Art und Weise in der Loznitsa das Geschehen filmt. Denn er tut etwas, was gute Filmemacher auszeichnet, er belehrt und doziert nicht, weder über die Geschichte des Lagers noch über das Verhalten der heutigen Besucher. Es gibt keinen Off-Kommentar in "Austerlitz" und keine Interviews. Allein indem er die Leute filmt, lässt er sie erzählen. Und da nichts kommentiert wird, werden die Bilder selbst zum Kommentar.

Man vergisst nie, wo man ist, und hat dennoch das Gefühl, den Ort zu verpassen

Man vergisst nie, wo man ist und was hier stattgefunden hat. Loznitsa filmt die Führer, während sie die Touristengruppen über den Ort des Grauens informieren. Man erfährt, dass in Sachsenhausen in erster Linie Zwangsarbeiter für die Rüstungsindustrie inhaftiert waren. Man erfährt von den Duschen, aus denen Gas kam, von den Tötungs- und Kremierungsprozessen. Man sieht die Orte, ihre Funktion.

Aber die Kamera zeigt eben viel mehr als das. Indem sie einfach filmt, verwandelt sie den Menschenstrom, der durch das Lager geschleust wird und an der Kamera vorbei, in einen pausenlosen, wie zufälligen, teils absurden Kommentar. Auf dem T-Shirt eines Jungen steht "Cool story, bro", auf dem eines Mannes hinter dem Fenster einer Baracke: "Jurassic Park". Während man nie vergisst, wo man ist, hat man dennoch das Gefühl, den Ort zu verpassen, nur durch ihn hindurchzugleiten wie die Touristen, die immer wieder beim Durchqueren von Türen gefilmt werden. Loznitsa zeigt, was das KZ früher war: ein Ort der Effizienz, bei der Zwangsarbeit, bei der Informationsgewinnung durch Folter, beim Töten. Er zeigt aber vor allem, dass er heute noch immer der Effizienz dient. Hier wird nun das Funktionieren der Aufnahmeapparate getestet und nach dem besten Bild unter dem "Arbeit macht frei"-Schild gesucht. Die eine Effizienz hat mit der anderen natürlich nichts zu tun, all die Bilder können dem Ort niemals gerecht werden. Gemacht werden sie aber trotzdem. Und so stellt sich die Frage, was man mit ihnen anfangen soll.

Die Antwort liegt zunächst im rätselhaften Titel des Films. Der Name "Austerlitz", eine Stadt in Tschechien, hat keinen Bezug zum KZ Sachsenhausen oder irgendetwas, was in dem Film auftaucht. Aber es ist der Titel eines Romans von W. G. Sebald. Dort will ein Architekt namens Austerlitz mit einer enormen Sammlung von Fotografien seine eigene Geschichte als jüdisches Kind inmitten der Ermordung der europäischen Juden durch die Nazis rekonstruieren.

Auch die Besucher im KZ Sachsenhausen sind Sammler. Sie sammeln Bilder wie die Verrückten und begraben damit die Realität des KZs unter Massen an Bilddateien. Weswegen ihnen der Sammler Sergei Loznitsa gefolgt ist, um durch seine Bilder auszugraben, was durch all die anderen Bilder verschüttet worden ist.

Austerlitz , Deutschland 2016 - Regie, Buch, Kamera: Sergei Loznitsa. déjà-vu film, 94 Minuten.

© SZ vom 16.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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