Ausstellung:Wo Milch und Blut nur in Strömen fließen

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Die großartige Marien-Ausstellung in Wittenberg belegt die konfessionsübergreifende Bedeutung, die der Gottesmutter trotz der Reformation zukam. Auch Luther empfand mindestens ein leichtes Faible.

Von Rudolf Neumaier

Um Unterflossing ist es jetzt wieder ruhig geworden, aber vor gut einem Jahr stand das oberbayerische Dörflein kurz vor einem Wunder. Ein Ingenieur aus München, der in Unterflossing eine Kapelle gekauft hatte und der Gottesmutter zugetan ist, kündigte für den 17. März um 16.30 Uhr eine Marienerscheinung an. Arme und Beladene strömten herbei, um teilzuhaben am Wunder. Es blieb aus. Allein, die Enttäuschung hielt sich in Grenzen, den meisten leuchtete ein: Wenn Maria erscheint, dann eher im Mai, weil es da am schönsten ist in Bayern. Und auch nicht unbedingt in Unterflossing. Wohl ein paar Kilometer weiter, in Altötting. Logistisch wäre man dort seit Jahrhunderten auf Wunder vorbereitet.

Immerhin das lehrt die Unterflossing-Episode: Der Marienkult lebt fort. Und wenn am 1. Mai andernorts die Gewerkschaften ihre Genossen zum Demonstrieren einberufen haben, dann konnten die letzten übrig gebliebenen Priester in Altbayern Trachtenvereine und Männerkongregationen zu Maiandachten mobilisieren, wie sie in ihrer Pracht schon vor hunderten Jahren gefeiert wurden. In Wittenberg ist derzeit eine Ausstellung über die Geschichte des Marienglaubens zu sehen. Sie fasst einen Zeitraum ins Auge, in dem sich die christlichen Geister schieden: das 16. Jahrhundert. Das Interessante an dieser Geschichte ist, dass Martin Luther die Gottesmutter viel wohlwollender sah, als mancher Lutheraner wahrhaben mag.

Ausgerechnet Wittenberg. Stiftungsdirektor Stefan Rhein verhehlt im Vorwort des ebenso lehrreichen wie prächtig ausgestatteten Kataloges nicht, dass im Vorfeld der Ausstellung katholischerseits befürchtet wurde, "hier könne ein Kernstück katholischer Spiritualität durch protestantische Polemik diskreditiert werden". Die Protestanten wiederum hätten ihr Befremden kundgetan: Gehört Maria nicht eher nach Fatima? Da kannten sie offenbar ihren Luther nicht. Die Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt könnte mit dieser Ausstellung sogar manchen Theologen überraschen.

Selbst Albrecht Dürer beteiligte sich am Kult und feierte in Holzschnitten "Das Marienleben"

Der zuverlässigste Förderer Luthers war ein glühender Marienverehrer. Der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise (1463 bis 1525) sammelte Reliquien wie andere Herrscher seines Standes Jagdwaffen, und er stiftete unermüdlich Marienmessen - bis zu tausend im Jahr. Die Geistlichen hatten jedenfalls reichlich Arbeit damit und ein passables Einkommen. Zu den wertvollsten Stücken in der kurfürstlichen Kultschatzkammer gehörten "von der Milch der Jungfrau Maria fünf Partikel, von dem Baum, wo Maria den Herrn gesäugt hat, eine Partikel". Während Friedrich in seiner Wittenberger Schlosskirche Schätze wie diese hortete und Rosenkranz betete, wurden wenige hundert Meter in der Stadtkirche die Errungenschaften der Reformation zelebriert. Hier waren die Heiligenkulte schon von gestern.

Madonna delle Grazie aus dem "Museo d'Arte Constantino Barbella" in Chieti (Foto: Gino di Paolo)

Weil die Evangelisten in der Bibel ziemlich wenig von Maria berichten, hatten die Christen im Mittelalter ihre eigenen Madonnenlegenden erdichtet. Marias Geburt wurde ebenso ausgeschmückt wie ihr Leben und ihre Himmelfahrt. Grenzen kannte die Fantasie kaum, und weder der Papst in Rom noch die Bischöfe schränkten den ausufernden Marienglauben ein. Dieser Vorgeschichte widmen Rhein und seine Kuratorin Katja Schneider im Wittenberger Augusteum breiten Raum. Sie verdeutlicht, warum diese Auswüchse Gegnerschaft evozierten, sobald einer die Bibel beim Wort nahm und die Legenden bloßstellte.

Selbst Albrecht Dürer beteiligte sich am Marienkult. Zwanzig Holzschnitte von ihm aus dem Jahr 1511 feiern "Das Marienleben". Die Geburt der späteren Gottesmutter stellte er sich in einem Nürnberger Großbürgergemach seiner Zeit vor, bei der Verkündigung durch den Erzengel Gabriel wähnte Dürer sie gerade am Betpult. Einerseits gestaltete er Maria als die Eine-von-uns-Frau, andererseits setzte er sie auf die Mondsichel, das Jesukindlein liegt in ihrem Arm. Es saugt an der Brust.

Das Motiv der Maria lactans, der Milch gebenden Maria, müssen die Menschen als besonders tröstlich empfunden haben. Frei von jeglichen erotischen Gedanken bildeten gotische Künstler die Gottesmutter wie selbstverständlich mit entblößter Brust ab. Viel mehr noch: Sie ließen üppige Strahlen von Milch daraus fließen.

Schon der Ordensgründer Bernhard von Clairvaux hatte im 12. Jahrhundert die Vision, Maria habe ihm mit Milch Heil zuteil werden lassen. Diese Gnade habe ihm sein rhetorisches Talent beschert. Ein Kuriosum ist eine in Wittenberg ausgestellte "Madonna delle grazie" von einem unbekannten mittelitalienischen Künstler aus dem Jahr 1498: Jede ihrer zwei Brüste schießt sieben Strahlen Muttermilch zielsicher auf arme Seelen, die bis zum Hals im Fegefeuer stecken. Wer eine solche Fegefeuerwehr anflehen muss, für den ist der liebe Gott bestenfalls ein böser Onkel.

Luther galt mal als einer der leidenschaftlichsten Marienverehrer der Kirchengeschichte

Diesen Übertreibungen konnte Luther nicht folgen. In seinem Arbeitszimmer hing, wie er selbst überlieferte, ein Marienbild. Doch er lehnte das weithin beliebte Motiv der Schutzmantel-Madonna ebenso ab wie Darstellungen der seit dem Hochmittelalter besungenen Himmelskönigin und die Pietà. Das Vesperbild war auch nicht mehr als eine Ausgeburt der Fantasie, denn nirgends in der Bibel steht etwas von einer trauernden Maria mit dem Leichnam des Gekreuzigten in den Armen. Der gläubige Mensch bedurfte nach Luthers Auffassung keine Vermittlerin zu Gott. Aber Vorbilder im Glauben, die passten durchaus in seine Theologie. Und genau das war Maria für ihn, ein Idol. Der Inbegriff der Demut, der vollständigen Gottergebenheit.

Bärtige Madonna vom Altarschrein aus dem Hauptaltar der Kirche St. Peter und Paul in Weißensee / Thüringen (Ausschnitt). (Foto: Sebastian Köpcke)

Die protestantische Marienforscherin Reintraud Schimmelpfennig bezeichnete Luther vor sechzig Jahren als einen der leidenschaftlichsten Marienverehrer der Kirchengeschichte. Wenn man die Marienpilger unter den Päpsten betrachtet, klingt das übertrieben und für katholisch-orthodoxe Rosenkranzfreunde provozierend. Als leichtes Faible kann man es dennoch bezeichnen, was Luther für die Magd empfand. Dass sie den Heiland als Jungfrau empfing und gebar, diese Lehre ist nicht nur ein Dogma der besonders wundergläubigen Katholiken - auch Luther propagierte sie. Stefan Rhein schreibt, Maria trenne nicht nur Protestanten und Katholiken, "sondern auch Luther und das auf ihn folgende Luthertum". Der Reformator selbst glaubte noch an Maria, die Fürbitterin, er beging Marienfeiertage und hinterließ seiner Kirche an die 60 Marienpredigten. Zu Mariae Heimsuchung publizierte er im Jahr 1529 einen Canticum Mariae virginis mit 13 Gesängen.

Davon distanzierten sich die Protestanten spätestens Mitte des 16. Jahrhunderts stetig und diskret, je pompöser die Katholiken nun ihre Marienprozessionen gestalteten. Statt der Verehrung gottesmütterlicher Milchdrüsen entwickelten sie ein eigenes Konzept heiliger Körperflüssigkeit: Sie ließen das Blut Christi fließen, und das ebenfalls in Strömen. Lucas Cranach der Jüngere zeigt auf einem Teil seines Bildes "Gesetz und Gnade" aus dem Jahr 1550 den Gekreuzigten, aus dessen Brust ein allheilender Blutschwall herniedergeht. Auch Maria hat auf diesem ihren Platz - als Randfigur.

Wenn sie nicht gleich verbrannt wurden, landeten Marienplastiken mit anderen Heiligen in Städten wie Zwickau, Dippoldiswalde und Dresden in der Götzenkammer. Zur Freude späterer Kunsthistoriker: Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Entdeckungen in der Götzenkammer im St.-Marien-Dom von Freiberg gleich als "vaterländische Altertümer" gefeiert und gaben der jungen Denkmalbewegung einen gehörigen Schub. Zu diesem Fund gehörte ein Vesperbild von spektakulärstem spätgotischem Realismus: Am Haupt des toten Jesus hängt Naturhaar. Brutaler als die Kulissenschieber von Freiberg gingen die Bilderstürmer von Orlamünde vor: Von der Alabaster-Pietà aus dem 15. Jahrhundert zuvor entfernten sie die Gottesmutter mit ein paar gezielten Hammerschlägen.

Lucas Cranach d.J.: "Gesetz und Gnade", nun in der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt (Ausschnitt). (Foto: Katalog)

Zu den einfallsreichsten Marienentehrern darf man wohl die Protestanten von Weißensee in Thüringen zählen. Weil die Skulptur heute noch die Kirche St. Peter ziert, ist diese Maria in der großen Wittenberger Ausstellung lediglich auf einem Foto zu sehen: Das Retabel zeigte ursprünglich die Krönung Marias durch Gottvater. Die einfache Magd eine Königin? Das behagte den Neugläubigen gar nicht. Statt ihr Haupt oder Krone wegzuhobeln, griffen sie zum Pinsel. Sie malten ihr einen Bart und machten einen Jesus daraus. Abgesehen vom Kinn hat die Figur durch und durch feminine Züge, aber für eine Marienerscheinung ist sie definitiv zu männlich.

Verehrt, geliebt, vergessen. Maria zwischen den Konfessionen. Augusteum, Wittenberg. Bis 18. August. Katalog (Michael-Imhof-Verlag) 25 Euro im Museum, 29,95 Euro im Handel.

© SZ vom 03.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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