Eigentlich hatte Daniel Biskup an jenem Novembermorgen 1989 einen Termin in Schwaben. Als Fotograf für den Bayernteil der Süddeutschen Zeitung. Am Vorabend, dem 9. November, war die Mauer in Berlin geöffnet worden. Das machte den Auftrag für Biskup irgendwie irrelevant. "Was soll ich in Memmingen, wenn die Mauer fällt", sagt er noch heute. Also fuhr er kurzerhand nach Berlin und fotografierte: Menschen auf der Mauer am Brandenburger Tor, DDR-Bürger an den Grenzübergängen, den überfüllten Kurfürstendamm, hunderte Menschen, die Schlange stehen für das Begrüßungsgeld, die ersten "Mauerspechte".
Biskup war damals 26 Jahre alt, studierte Geschichte, arbeitete als freier Fotograf. Die Bilder vom Mauerfall allerdings machte er ohne Auftrag - und ohne, dass diese Fotos irgendwo veröffentlicht wurden. "Ich fand es spannend, dabei zu sein. Das war der Antrieb", erklärt er. Jahrzehnte später publizierte der Verlag Salz und Silber die Aufnahmen des mittlerweile renommierten Fotografen, der beispielsweise jahrelang Helmut Kohl begleitete. Seine Mauerfall-Fotos erschienen unter anderem in dem Bildband "Budapest - Berlin", das Vorwort schrieb Jean-Claude Juncker.
In diesem Jahr kam noch ein weiteres Buch hinzu: "Wendejahre" (Salz und Silber) mit Fotos aus Ostdeutschland aus den Jahren 1990 bis 1995, das Thomas Gottschalk in seiner ersten Literatursendung gleich ins Programm nahm. Das Augsburger Schaezlerpalais hat nun eine Auswahl von 100 Aufnahmen aus beiden Bänden zu der Ausstellung "Wendejahre" zusammengestellt - zu einem wirkungsvollen Rundgang, der von der trunkenen Euphorie zur harten Desillusionierung führt.
"Fünfeinhalb Jahre, neun Räume", sagt Biskup dazu. Gemeint ist die Zeit 1989 bis 1995 - Jahre, in denen er von Augsburg aus nach Berlin, Leipzig und weiter in den Osten fuhr. Mindestens ein Drittel der Zeit habe er dort fotografiert, schätzt er. Teils sind es Ereignisse, deren Bilder man - wenn auch nicht von Biskup - kennt: eben die Menschen auf der Mauer, die ersten Trabis, um die sich die Wessis drängen, Zehntausende, die Helmut Kohl zujubeln im Februar 1990 in Erfurt, am 3. Oktober in Berlin. Und dann sind es Aufnahmen, die jene Welt abseits der großen Demonstrationen zeigen, sozusagen die Seitenstraßen des Lebens, die oft auch ein schäbiges Antlitz tragen.
"Man muss die Dinge fotografieren, die heute banal sind. Sie bekommen mit Abstand ihre Bedeutung", sagt Biskup. Das Banale: Das sind dann etwa Arbeiter, die Straßenschilder austauschen, die "Leninallee" in die "Landsberger Straße" umwidmen. Oder Frauen und Männer aus dem Osten, die in westdeutsche Pornokinos drängen. Aber auch erste kritische Graffiti an der Berliner Mauer, "Einheit auf eigene Gefahr".
Nach diesen ersten Aufnahmen in der Ausstellung bekommt die zuvor noch begeistert gefeierte Einheit in Biskups Bildern Risse. Da ist zum Beispiel der aus dem Nichts entstandene Schrottplatz am ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße. Alte Trabis sammeln sich dort, ausrangierte Möbel, Überbleibsel "von einer Gesellschaft, die vorher keinen Müll kannte, also auch diese Plätze nicht hatte", sagt Biskup. Oder der Lkw der Handelsgesellschaft Leipzig: Im Juni 1990 fährt er noch durch die Gegend - allerdings schon nicht mehr als Nutzfahrzeug, sondern als Werbefläche für Zigaretten. Ein Jahr später entdeckte Biskup ihn endgültig abgestellt im Graben, fotografierte auch das. Es ist die Geschichte eines wirtschaftlichen Niedergangs, erzählt in zwei Bildern.
Natürlich nahm Biskup bei seinen Reisen in den Osten auch die Menschen auf. Eine Porträtserie zeigt diejenigen, die um ihre Arbeitsplätze kämpfen, Gesichter, die schon zum Zeitpunkt der Demonstration erstaunlich hoffnungslos wirken. Einmal, im Jahr 1993, besuchte der Fotograf die Betriebsversammlung der Firma Belfa. Es sei ein Zufall gewesen, betont er. Aber genau in dieser Versammlung sei den Angestellten mitgeteilt worden, dass sie fortan keine Arbeit mehr haben. Biskup fotografierte, Frauen, deren Gesichter noch weniger als Hoffnungslosigkeit widerspiegeln, deren Blicke einfach leer sind.
Im Schaezlerpalais hängen diese Fotos in bedrückender Dichte nebeneinander. Der Erklärungstext ist auf ein Minimum reduziert. Ein "Ende gut", gibt es nicht, sondern eben die Ruinen einer Wiedervereinigung. Irgendwann tauchen dann auch die Hakenkreuze auf, eines prangt am stillgelegten Bahnhof Espenhain. Daneben steht: "Gedanken kann man nicht verbieten." Die Ausstellung legt die Konklusion nahe, dass viele Probleme von heute mit der Wende kamen - und sie schon lange sichtbar waren. "Das Fazit ist: Nicht alle hatten Glück und viele sind nicht mitgenommen worden", sagt Biskup. Die Augsburger Ausstellung ist kein Lied auf die Freiheit, sondern ein Klagelied der Vergessenen. Immerhin gibt es auch jenes Bild: zwei Skateboarder auf den Stufen des Palasts der Republik. Sie fahren nicht mehr unter Hammer und Zirkel, sondern frei.
Daniel Biskup: Wendejahre ; Sonntag, 14. April, bis 14. Juli, Schaezlerpalais, Augsburg