Ausstellung:Vaters verlorenes Leben

Die Ausstellung "Silber für das Reich" im Bayerischen Nationalmuseum erzählt die Geschichten hinter den Alltagsgegenständen, die im Nationalsozialismus Menschen abgepresst und entwendet wurden

Von Evelyn Vogel

Für Michael Marx war es, als ob man ihm seine Familiengeschichte zurückgeben würde. Erst bekam er vor wenigen Jahren einen Anruf eines Heimatforschers aus Augsburg, der ihm vom Schicksal der ersten Frau Dina und Familie seines Vaters erzählte. Dann meldete sich das Bayerische Nationalmuseum und berichtet ihm von Objekten, die ein Stück seiner Familiengeschichte erhellen. Dass es dabei um nur zwei Silberobjekte geht zeigt, wie wichtig auch kleine Stücke sein können, um ein Ganzes zu formen.

Dass Michael Marx die beiden Objekte 80 Jahre nach deren Verlust nun bald mit nach Hause nehmen kann, zeugt von zwei Dingen: zum einen, dass sich das Bayerische Nationalmuseum um eine lückenlose Provenienzforschung bemüht und diese in die Familiengeschichte einbetten will, wie sie es nun in einer Ausstellung getan hat; zum anderen, dass dadurch Nachfahren von Ereignissen im Leben ihrer Angehöriger erfahren, die ihnen sonst womöglich für immer verborgen geblieben wären. Denn Leo Heinrich Marx hat mit seinem Sohn über diese besondere Zeit später nie gesprochen, wie dieser erzählt.

Marx

Das silberne Gewürzgefäß aus dem frühen 19. Jahrhundert musste die Familie Marx beim Leihamt einliefern. Später gelangte es ins Bayerische Nationalmuseum.

(Foto: Walter Haberland/Bayerisches Nationalmuseum, München)

Früh wurde Leo Marx, der 1896 in der Nähe von Saarlouis geboren wurde und zunächst nach Augsburg und dann nach München zog, inhaftiert und in Konzentrationslager gesteckt. Zweimal in den Jahren zwischen 1933 und 1939 war er jeweils längere Zeit in Haft. Nach der Entlassung wurde er genötigt, Deutschland innerhalb von zwei Wochen zu verlassen. Bei der Emigration nach Shanghai musste er Frau und Kinder zurücklassen. Sie wurden zwei Jahre später nach Litauen deportiert und dort erschossen. Leo Marx blieb bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Shanghai und heiratete später eine Koreanerin, mit der er Ende 1948 nach Deutschland zurückkehrte. Die Ehe war unglücklich und wurde geschieden. Michael Marx stammt aus der Verbindung mit der dritten Frau von Leo Marx und wurde 1954 geboren, da war der Vater bald 60 Jahre alt. Vielleicht war es der große Altersunterschied - "die Leute dachten oft, mein Vater sei mein Großvater", erzählt Michael Marx bei seinem Besuch in München -, vielleicht war es der Versuch, die Erinnerungen an die schlimme Zeit loszuwerden: Jedenfalls verschloss der Vater seine Familiengeschichte in der Vergangenheit. Und der Sohn bedauerte zu spät, nicht nachgefragt zu haben. Leo Marx verstarb 1972 in Saarbrücken, wo sein Sohn noch heute lebt.

Am Beispiel der beiden Silberobjekte der Familie Marx - ein vergoldeter Silberpokal und ein silbernes Gewürzgefäß - erzählt das Bayerische Nationalmuseum die Geschichte dessen, was der Provenienzforscher und Kurator der Ausstellung "Silber für das Reich" Alfred Grimm als "Vorstufe zur Schoah" bezeichnet: Die Enteignung jüdischer Mitbürger im Nationalsozialismus durch Zwangsabgaben. In diesem Fall war es die sogenannte "Silberzwangsabgabe", legitimiert durch die im Februar 1939 erlassene "Dritte Anordnung auf Grund der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden". Die Edelmetallgegenstände mussten die Betroffenen gegen einen Spottpreis in den mit der Entgegennahme beauftragten Leihhäusern abliefern. Nicht selten landeten sie als "Schmelzsilber" im Feuer, um später in Form von Medaillen, Orden oder Pokalen in die Hände ihrer Verfolger, Peiniger, Mörder und deren Mitläufer zu gelangen. Erhalten blieben vor allem Objekte mit Kunst- und Seltenheitswert.

Dina Marx

Dina Marx wurde von den Nazis ermordet.

(Foto: Privat)

Ankaufsverzeichnisse, Gestapo-Beschlagnahmeprotokolle, Überweisungsbelege, Zugangsjournale und immer wieder Listen, Nummern, Zahlen. Wie ein Maschinengewehrfeuer prasseln sie auf einen ein, wenn man durch den Katalog blättert, der begleitend zur Ausstellung erschienen ist. Die langen Kolonnen, sie vermitteln einen Eindruck davon, wie systematisch jüdisches Eigentum unrechtmäßig entzogen wurde. Und dass sich alle daran bereicherten, dass sich Museen ungeniert bedienten, weiß man nicht nur, aber nun sehr viel detaillierter, seit das Thema Raubkunst in der Folge der Washingtoner Erklärung von 1998 von vielen Institutionen auf die Agenda gesetzt wird. Dass es neben wertvollen Kunstschätzen dabei oft auch um Alltagsgegenstände ging, hatte auch die Ausstellung "Ehem. jüdischer Besitz" eindrücklich belegt, die sich vergangenes Jahr den Erwerbungen des Münchner Stadtmuseums im Nationalsozialismus widmete.

322 Silberobjekte aus der sogenannten "Leihhausaktion" erwarb das Bayerische Nationalmuseum in den Jahren 1939/40 vom Städtischen Leihamt München. Objekte, in denen sich vor allem Kunst und Können Augsburger und Nürnberger Silberschmiedemeister des 17. und 18. Jahrhunderts manifestiert. 207 davon hat das Museum von Anfang der Fünfziger- bis Ende der Sechzigerjahre an die ursprünglichen Besitzer oder deren Erben zurückgegeben. Geblieben waren - für Forschungszwecken in Depotschränken verwahrt - 112 Silberobjekte. Für sie waren keine Ansprüche geltend gemacht worden oder man kannte die Anspruchsberechtigten nicht. Und um diese 112 Objekte dreht sich die Studioausstellung, die - wie betont wurde - "keine Kunstausstellung" ist. Deshalb geht es nicht nur um die Objekte. Sondern vor allem um die Menschen, denen sie einst abgepresst wurden.

Leo Heinrich Marx

Leo Heinrich Marx konnte emigrieren und kehrte später nach Deutschland zurück.

(Foto: Privat)

Es sind Alltagsgegenstände aus Silber: Becher, Salzgefäße, Zuckerdosen, Kerzenleuchter, Gewürzdöschen, Löffel, Ess- und Vorlegebestecke, Schalen, Platten, Kännchen. Teils schlicht gearbeitet, teils reich ziseliert und verziert. Geordnet sind sie nicht nach künstlerischer Herkunft oder alltäglicher Gebrauchsbestimmung. Geordnet sind sie nach den einstigen Besitzern: von A wie Ackermann bis W wie Wetzlar. Dazu möglichst detaillierte Beschreibungen und die Erkenntnisse über die Provenienz mit Hilfe zahlreicher Nummern von Leihamt bis hin zur Inventarisierung im Museum.

Nur in fünf Fällen ist die lückenlose Familienzuschreibung bis hin zur Restitutionsmöglichkeit wie bei der Familie Marx geglückt. Doch Projektleiter Alfred Grimm, der sich altersbedingt aus dem Amt verabschiedet, hofft mit dieser Ausstellung, dass weitere Fälle geklärt werden können. Im Bayerischen Nationalmuseum hofft man, dass die Stelle nachbesetzt wird. Denn die Provenienzforschung hat ja eben erst begonnen.

Silber für das Reich. Silberobjekte aus jüdischem Eigentum im Bayerischen Nationalmuseum, Prinzregentenstraße 3, bis 10. Nov., Di-So 10-17 Uhr, Do 10-20 Uhr

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