Ausstellung:Über Leben

Die Erzabtei Sankt Ottilien bei Landsberg arbeitet ihre jüdische Geschichte auf

Von Sabine Reithmaier

Die Geschichte beginnt mit einem folgenschweren Irrtum: Statt des vermuteten Verpflegungszugs der deutschen Luftwaffe bombardieren die Alliierten am 27. April 1945 in Schwabhausen Güterwaggons. Darin eingepfercht warten Häftlinge aus den Kauferinger Außenlagern auf ihren Weitertransport ins KZ Dachau. 150 sind sofort tot, hunderte verletzt. Binnen zwei Tagen werden sie in die nahe Erzabtei Sankt Ottilien gebracht, zu diesem Zeitpunkt ein Lazarett der Wehrmacht. Nach und nach wandelt sich das Kloster der Missionsbenediktiner im Landkreis Landsberg in ein Lager für Displaced Persons (DP), wie die Alliierten jene Menschen nannten, die Nazis und Krieg heimatlos gemacht hatten. Obwohl zwischen 1945 und 1948 mehr als 5000 jüdische Überlebende der Schoa im Kloster lebten, ist diese jüdische Facette der katholischen Einrichtung bislang kaum erforscht.

Das ändert sich gerade, denn die Erzabtei arbeitet in einem umfangreichen Rechercheprojekt gemeinsam mit der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur an der LMU und dem Jüdischen Museum München die Geschichte auf. Die Mönche hätten sich an diese Jahre lange Zeit nur als unliebsame Unterbrechung ihres Klosteralltags erinnert, berichtete Pater Cyrill Schäfer von der Erzabtei. 1941 hatten die Nazis das Kloster beschlagnahmt. Die jüngeren Mönche wurden eingezogen, die älteren vor die Tür gesetzt oder als Zwangsarbeiter für die Landwirtschaft verpflichtet. 1945 kamen die Mönche zurück, fanden aber kaum Platz für sich. Das Hauptkloster war besetzt mit den Operationssälen. Auseinandersetzungen mit der jüdischen Selbstverwaltung, aber auch der amerikanischen Militärregierung waren programmiert. "Manche Mönche verkrafteten es auch nur schwer, dass Frauen im innersten Klosterbereich nächtigten."

Pater Cyrill Schäfer

"Manche Mönche verkrafteten es auch nur schwer, dass Frauen im innersten Klosterbereich nächtigten."

Er selbst wusste 1995, als er ins Kloster eintrat, nicht viel von dieser Zeit, obwohl es einen jüdischen Friedhof in Sankt Ottilien gibt. Erst zwei jüdische Ärzte, die aus den USA als Besucher kamen und einen englisch sprechenden Pater als Führer benötigten, berührten ihn tief und sensibilisierten ihn dauerhaft für das Thema. "Sie wollten das Krankenhausgelände sehen, weil sie hier geboren worden waren." Inzwischen hat in Sankt Ottilien längst ein Umdenken eingesetzt, zumal immer häufiger Besucher kamen, die ihren Kindern oder Enkeln zeigen wollten, wo ihr neues Leben nach der Schoa begonnen hatte. "Inzwischen wissen wir auch, wie wichtig und wie ungeheuer emotional diese Besuche sind." Und dass es einer gewissen Zeit bedarf, bis die Besucher die oft große Distanz abbauen.

Die Lager waren nur als Zwischenstation gedacht, als Orte, in denen die Zeit bis zur Auswanderung überbrückt werden sollte. Im Vergleich zu Föhrenwald oder Landsberg war Sankt Ottilien auch nur ein kleines Lager. Doch das jüdische Leben habe sich dort schnell und sehr selbständig organisiert, berichtet Evita Wiecki, Dozentin der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur. Neben jüdischem DP-Krankenhaus und Lager entstanden ein Geburtenhaus, in dem mehr als 400 jüdische Kinder zur Welt kamen, Betstube, Kindergarten und Talmudschule. Die Küche war koscher, es gab einen Sport- und einen Schachklub. Nahezu berühmt wurde das Musikorchester aus Sankt Ottilien, das in sämtlichen DP-Lagern der amerikanischen Besatzungszone auftrat. Dass die Aufarbeitung der Geschichte dieses Lagers so lange gedauert hat, erklärt sich Wiecki aus der Quellenlage. Zwar sei das Gemeindeleben gut dokumentiert, aber die meisten Unterlagen seien in Jiddisch verfasst, "da war die Zugänglichkeit nicht so gegeben".

Ausstellung: Ein Krankenhausbett im Benediktinerkloster St. Ottilien, das von 1945 bis 1948 als Lager für "Displaced Persons" diente, fotografiert von dem israelischen Künstler Benyamin Reich.

Ein Krankenhausbett im Benediktinerkloster St. Ottilien, das von 1945 bis 1948 als Lager für "Displaced Persons" diente, fotografiert von dem israelischen Künstler Benyamin Reich.

(Foto: Benyamin Reich, Berlin/Jüdisches Museum München)

Beeindruckend ist der "DP-Talmud", den zwei Rabbiner 1946 mit amerikanischer Unterstützung nachdrucken ließen. Ausgerechnet im bis 1945 so Hitler nahen Bruckmann-Verlag, der jede Menge antisemitische Schriften veröffentlicht hatte. Obwohl Talmud-Ausgaben wegen des Bilderverbots normalerweise nicht illustriert sind, erzählt hier die Titelseite vom tödlichen Stacheldraht-Lager in Deutschland, dem eine strahlende Vision des jüdischen Heimatlands entgegen gehalten wird. Kein Wunder, dass der israelische Künstler Benyamin Reich, der aus einer chassidischen Familie stammt, für seine Aufnahmen einen Benediktinerpater mit genau diesem Talmud unter dem Arm abbildet. Ein anderes Foto dokumentiert den Bauschutt des erst 2017 abgerissenen Paulus-Hauses, der ehemals jüdischen Betstube und Bibliothek. Ein wunder Punkt, sagt Pater Cyrill Schäfer. Doch das Kloster habe zunehmend weniger Nachwuchs, dafür aber zahlreiche Gebäude, die langsam vor sich hin verfielen. "Das ist eine finanzielle Frage, es fehlt an Geld, alles zu erhalten."

Reichs Installation schöpft ihre Kraft aus dem Spannungsfeld der beiden Religionen, die für drei Jahre in Sankt Ottilien nebeneinander lebten. Derzeit liefert sie im Jüdischen Museum München (von 13. Mai an) einen Vorgeschmack auf die Ausstellung in Sankt Ottilien, die erst am 10. Juni eröffnet. Dort wird neben der Ausstellung und einem Internationalen Symposium (10. bis 12. Juni) eine neue Außenbeschilderung an die Nutzung als jüdisches DP-Lager erinnern. Pater Cyrill würde sich wünschen, dass dieser Gedenkweg im Kloster den Sommer überdauert. Um das vorstellbar zu machen, was in Wirklichkeit nicht mehr da ist.

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