Süddeutsche Zeitung

Ausstellung über Juden in Berlin:Die Sache mit der Vorhaut

Diese Berliner Ausstellung bringt ihre Besucher zum Reden, weil sie vom Pfad der Belehrung abweicht. In "Die ganze Wahrheit - Was Sie schon immer über Juden wissen wollten" antworten jüdische Mitbürger auch auf Fragen zur Vorhaut oder zu erlaubten Holocaust-Witzen. Ist das zu frech?

Von Thorsten Schmitz, Berlin

Am Eingang zum Jüdischen Museum in Berlin hat sich eine Schlange gebildet, es ist das übliche Bild vor Jüdischen Museen: Die Flughafenschlange. Ein Wachmann bittet, Handy und Schlüssel zum Scannen in einen Korb zu legen, die Besucher passieren eine Sicherheitsschleuse.

Man würde vielleicht nie erfahren, was die Besucher denken, jetzt wissen wir es, dem Jüdischen Museum Berlin sei Dank. Mit einer sensationell verwirrenden neuen Ausstellung, die Klischees persifliert und tradierte Vorurteile attackiert, bringt es die Besucher zum Reden. Die Schau heißt "Die ganze Wahrheit - Was Sie schon immer über Juden wissen wollten". Am Ende dürfen die Besucher ihre Gedanken auf Zettel notieren und auf eine Betonwand kleben. Einer hat geschrieben: "Grenzen sich jüdische Synagogen, Schulen und Museen durch strenge Sicherheitsmaßnahmen nicht selbst aus?"

Hunderttausende Menschen haben das Jüdische Museum Berlin seit seiner Eröffnung 2001 besucht - und Tausende Gedanken online und im Gästebuch hinterlassen.

Programmdirektorin Cilly Kugelmann und drei Kuratorinnen haben aus dem Meer an Fragen 32 herausgefiltert und eine Schau konzipiert, in der nicht Juden die Hauptrolle spielen, sondern Fragen über Juden. Ganz banale wie: "Darf man Jude sagen?" (Na klar.) Oder: "Darf man über den Holocaust Witze machen?" (Darf man offenbar). Oder: "Warum lieben eigentlich alle die Juden?" Ist das so? Darauf liefert die Ausstellung keine Antwort.

Nach ein paar Tagen ist die Betonwand übersät mit rosafarbenen Zetteln. "Ich bin ratloser als vor der Ausstellung", steht auf einem. Genau das will Kugelmanns Museum: Verwirrung stiften. Anregen. Es verlässt den Pfad der Belehrung und die gerne in Jüdischen Museen praktizierte Konvention, die Traditionen des Judentums in verstaubter Ernsthaftigkeit zu beleuchten.

Jeden Tag ein Jude in der Vitrine

Es holt das Leben in seine Räume und tut etwas Unerhörtes: Es stellt lebende Juden aus, Juden zum Anfassen, zum Fragenstellen. In einem Raum steht eine Glasvitrine, in ihr sitzt jeden Tag ein Jude, immer zwischen 14 und 16 Uhr.

An einem der ersten Tage trifft man dort Leeor Engländer. Wer sich mit ihm unterhält, erfährt: "Es gibt Juden, die von Sozialhilfe leben. Es gibt Juden, die nicht in die Synagoge zum Beten gehen, sondern Tai-Chi und Yoga machen."

An einem anderen Nachmittag hat die Münchner Autorin Olga Mannheimer in der Vitrine Platz genommen. Mit einem zauberhaften Lächeln nimmt sie den Besuchern die Scheu, eine Jüdin zu fragen. Einer Frau um die 50 erklärt sie, was mit "Bananenjuden" gemeint ist, bis die Frau sich einen Ruck gibt und fragt: "Stimmt es, dass ein Jude, der beschnitten ist und nicht mehr Jude sein möchte, seine Vorhaut wieder annähen lassen kann?"

Koscher. Das Wort hat jeder schon mal gehört, aber weiß auch jeder, was es meint? In einem transparenten Kühlschrank stehen koschere Produkte, darunter: Ketchup, Cornflakes, Ricola-Bonbons und auch: Eine Packung Underberg-Liköre. Man erfährt, dass Sammy Davis Jr. 1955 nach einem schweren Autounfall zum Judentum übergetreten ist. Und man kann auf einem iPad Tweet-Gebete an einen Israeli in Jerusalem senden, der verspricht, die Gebete auszudrucken und in die Ritzen der Klagemauer zu stopfen.

Darf man Witze über den Holocaust machen? Anscheinend ja. An einer Wand hängt ein Comic des irischen Illustrators Dave McElfatrick. Es zeigt einen Jungen, der den Arm eines Mädchens hält, über ihnen steht: "Das Problem, Mädchen in Konzentrationslagern zu daten, ist..." Der Junge hält den Arm des Mädchens in seiner Hand und sagt: "Hier, ich schreib Dir einfach meine Telefonnummer auf den Arm. Ah, shit, kein Platz mehr."

Klischees schwirren durch die Ausstellungsräume, unerhörte Sätze wie "Juden sind an allem schuld". Und man wird überrascht. Ein Foto zeigt ein älteres israelisches Ehepaar in ihrer Essecke Zuhause. Erst beim zweiten Hinschauen entdeckt man: Über dem Esstisch hängt ein Foto vom Eingangstor in Auschwitz. Man sieht ein handgeschriebenes Rezept für Reibekuchen, und erfährt, es stammt von Tom Franz, einem zum Judentum übergetretenen Deutschen, der gerade in Israel bei einer TV-Kochshow alle anderen israelischen Konkurrenten ausgestochen hat.

Die Besucher bekommen am Eingang zur Ausstellung Chips in die Hand gedrückt und können Klischee-Barometer damit füllen. "Juden sind besonders..." steht über den Barometern, und auf ihnen "tierlieb", "geschäftstüchtig", "schön", "intelligent", "einflussreich". Ein paar Tage nach der Eröffnung liegen die meisten Jetons im Barometer "geschäftstüchtig" und "intelligent". Darf eine Ausstellung rassistische Klischees instrumentalisieren? Für ein Spiel?

Es gibt Stimmen, die Ausstellung sei zu flach, zu frech, und zudem befördere es Voyeurismus, Juden in Vitrinen auszustellen. Programmdirektorin Cilly Kugelmann hat geahnt, dass solche Kritik kommt. Aber sie fürchtet sich nicht vor Kritik. Sie findet: "Eine Ausstellung kann auch mal leicht und spielerisch sein."

Eine Frage allerdings fehlt in der Ausstellung, räumt Cilly Kugelmann ein. Es ist die Frage, die ihr am meisten gestellt wird. Tausende Menschen hat sie in den vergangenen elf Jahren als stellvertretende Museums-Chefin kennengelernt - und noch immer ist sie erstaunt über eine Frage, die sie fast jeden Tag hört: "Eigentlich ist es keine Frage: Viele Menschen sind immer ganz überrascht, wenn sie hören, dass nicht alle Mitarbeiter im Jüdischen Museum Juden sind."

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SZ vom 27.03.2013/kath/pak
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