Süddeutsche Zeitung

Ausstellung:Topografie des Lebens

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Stefan Huber baut an seiner eigenen Welt - zu sehen ist sein labyrinthisches Werk im Kunstmuseum am Inselbahnhof in Lindau

Von Sabine Reithmaier

Erst passiert man die schneeweißen Gipfel der Alpen, geht vorbei am Monte Antelao, den Drei Zinnen, dem Watzmann und anderen Bergen. Bleibt an einer Weltkugel stehen, keinem blauen Planeten, sondern einem hängenden Globus mit schwarzen Meeren und grauen Ländern, verdüstert durch die Katastrophen, die Menschen sich gegenseitig, aber auch der Erde antun. Ein harter Kontrast zur Erhabenheit der Gebirge. Aus der Ferne leuchtet tröstlich eine rote Karte. Und schon ist man mitten in der Welt von Stephan Huber, die er im Kunstmuseum Lindau zeigt.

Huber ist der erste lebende Künstler, dessen Arbeiten dort zu sehen sind. Das Haus, genau genommen die jahrelang leer stehende ehemalige Hauptpost am Inselbahnhof, hat erst im April 2019 mit einer Hundertwasser-Ausstellung eröffnet. "Die Besucherzahlen werde ich sicher nicht erreichen", sagt Huber. Das wäre schade, denn es ist sehr vergnüglich zu beobachten, wie er durch sein labyrinthisches Denken eine Welt entstehen lässt, in der nicht anonyme Strukturen für Bewegung und Veränderung sorgen, sondern Individuen.

Obwohl seine Werkgruppen einer ganz unterschiedlichen Wahrnehmung bedürfen, vereint sie der Bildhauer und langjährige Professor an der Münchner Kunstakademie gern miteinander. Die Berge, maßstabsgetreue Modelle in Dentalgips auf weißen Stelen, lassen sich als heroisch erhabene Skulpturen schnell erspüren; Bergsteigerkenntnisse sind allerdings hilfreich, um die Flanke zu erkennen, die Huber so modelliert hat, wie er sie besser finden würde. "Ich arbeite ja nicht fürs Naturkundemuseum." Vor den Karten dagegen kann man stundenlang stehen und sich in viele Geschichten vertiefen.

In Lindau freilich irritiert zwischen Karten und Bergen ein riesiges, weißes Plateau, das irgendwie noch zu den Alpen gehört. "Family affairs" hat Huber die Arbeit genannt, die wie alle seine Werke an seine Biografie geknüpft ist. Für ihn ist sie genau an dem Platz wichtig, damit die Schönheit der Alpen "nicht zu elegisch, zu griechisch, zu pathetisch wird." Zwei winzige Gebäude, platziert vor einer schroff abfallenden Felswand, lassen sich auf der gewaltigen Ebene erkennen: das Elternhaus des Künstlers und, gegenüber, das letzte Domizil, in dem die "Manson Family" lebte, jene Kommune, die auf Geheiß ihres Führers Charles Manson 1969 in Kalifornien mehrere Morde beging. Seine Mutter sei von dieser, wenn auch nur in einem Kunstwerk existierenden Nachbarschaft nicht begeistert gewesen, erinnert sich Huber, auch nicht als er ihr erklärte, es handele sich um eine Metapher für die Fünfzigerjahre, in der das Grundschüler-Dasein im Allgäu noch ziemlich grausam sein konnte.

Huber stammt aus einem großbürgerlichen Elternhaus in Lindenberg. Sein Vater war einer der fünf Besitzer der ehemaligen Hutfabrik Ottmar Reich, in die inzwischen das Hutmuseum gezogen ist. Der Sohn, inzwischen 68 Jahre alt, erinnert sich noch gut an prügelnde Volksschullehrer. Aber auch an die Alpenkette, die er von Lindenberg aus sah und die erst viel später in seine Kunstformen einfließen sollte.

Die Berge im Blick vertiefte er sich schon als Schüler gern in den Diercke-Weltatlas und rettete sich aus dem tristen Schulalltag in die Tundra, Taiga oder das Amazonasgebiet. Auch seine Leidenschaft für Karten hat er in Kunst gewandelt, zerschneidet mit der Nagelschere Diercke- oder amerikanische Militärkarten, setzt sie mit Fotos, Gemäldeausschnitten, Stadtplänen, Logos, U-Bahn-Plänen und Texten zu großen, später digitalisierten Collagen zusammen. Anders als die Berge haben sie mit einer realen Topografie nichts zu tun, erzählen aber, indem sie Subjektives mit Allgemeinem vermischen, auf eine ganz spezielle Art unendlich viel.

Das meiste sei dechiffrierbar, sagt Huber. Die "Passage durch den Überbau" hat er wie eine Schifffahrtslinie durch sein bisheriges Leben konstruiert. Zweifelsfrei eine Fahrt durch unruhige Gewässer, aber auch eine Fahrt durch 67 Jahre ohne Krieg. Die Bücherinsel seines Vaters findet sich darin genauso wie Laseroperationen an seinen Augen, die Atomkatastrophe von Tschernobyl oder die Dioxin-Giftwolke von Seveso. Immer wieder taucht der stumme Munch-Schrei auf, signalisiert Hubers Betroffenheit über den Tod bestimmter Menschen.

Die jüngsten Karten sind knallig bunt. "Das sind alles nur noch Kreise und Strudel, alles implodiert, bewegt sich oder ist zentrifugal", sagt Huber. "Metaphorisch gesprochen: Die Welt löst sich allmählich auf." Aus ungezählten Stadtplänen der ganzen Welt hat er die Karte einer einzigen Stadt gebaut. Einer anderen Karte liegt der Plan von Rodez zugrunde, jener französische Ort, in dem Antonin Artaud, Schauspieler, Theater-Theoretiker und Vater aller Performance-Kunst, jahrelang in einer Nervenheilanstalt lebte, mit Elektroschocks behandelt wurde und nebenbei seine Bücher schrieb. "Meine Heroen kommen immer wieder vor", sagt Huber. Seine Lieblingsmusiker lassen sich in 24 kleinen Karten über Amerika entdecken. Der Vorteil der Karten liegt für ihn klar auf der Hand: "Ich muss im Gegensatz zu anderen alten Männern keine blöde Biografie schreiben, sondern arbeite das viel cooler auf", sagt er. Bildprogramme funktionierten anders als harte sprachliche Statements. "Sie sind viel verspielter und poetischer."

Am Ende landet man im Videoraum. Dort laufen drei seiner komisch-surrealistischen Puppentheater-Filme, etwa "Leibniz' Lust und Teufels Tod". Und während Kasperl und Leibniz sich darin über Dummheit streiten, fährt Hubers Puppen-Double ganz gelassen in die Hölle ein.

Stephan Huber: Der müde Kasperl und die Kartografie , bis 2.2., Kunstmuseum am Inselbahnhof in Lindau; Künstlerführung mit Stephan Huber am Sa., 18.1., 14.30 Uhr

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SZ vom 17.01.2020
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