Ausstellung "Roll Over" in Köln:Jeder ist seines Nächsten Exhibitionist

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Waren sich die beiden bewusst, dass sie gefilmt werden? Richard Leacock zeigt in "Community of Praise" von 1981 streng religiöse Christen. (Foto: Pennebaker Hegedus Films, New York/Temporary Gallery, Köln)

Bilder von allem und jedem sind in der Smartphone-Ära allgegenwärtig geworden. Richard Leacock war schon in den sechziger Jahren dicht an seinen Motiven - mit einer selbst entworfenen Kamera, die er locker aus der Hand bediente. So fing er ungewöhnlich unmittelbare Bilder ein.

Von Catrin Lorch

Die Filmaufnahmen müssen anstrengend gewesen sein, kein Drehbuch, die Schauspieler nur so halb angeleitet, viel Familie am Set. Aber diese Bilder übertreffen den so umrissenen Horror von "Maidstone" (1970) noch: Kindergebrüll. Keifende Ehefrauen. Ein Schauspieler, dem das Blut am Ohr herabströmt. Norman Mailer verstört. Richard Leacock hält weiter drauf, folgt mal dem Schriftsteller, dann wieder dem Geheul der Kinder. Das Unheil entrollt sich vor der Kamera und zeitweise sicher auch für die Kamera, aber trotzdem hat man das Gefühl, dabei zu sein.

Genauso wie bei diesem Gartenfest "Hickory Hill" (1968), zu dem die Kennedys einmal im Jahr auf ihrem Anwesen einladen. Eine Tierschau, bei der Hunde Tricks vorführen, Kinder auf meisterlich gestriegelten Ponys durch den Ring reiten (die meisten sind Kennedy-Enkel und Urenkel), während der Haushund, ein bärengewaltiger Neufundländer, auf den Balkon gesperrt bleibt. Er habe im vergangenen Jahr das Bein an den picknickenden Gästen gehoben, erklärt ein Kennedy, während der Hund von oben durch die Gitterstäbe schaut, auf die Kamera, die sich bald wieder löst und neugierig über die weite Wiese schweift.

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Diese Bilder aus den Sechzigerjahren sind so unmittelbar und dicht dran, als sei damals schon die Allgegenwärtigkeit der Kamera erfunden worden; als hätten sich alle schon daran gewöhnt, dass sie ständig gefilmt werden, kommentierend, halb vergessend, ob sie nun im Leben oder im Bildschirm handeln: Gab es diese Leute wirklich einmal, fragt man sich vor "Community of Praise" (1981), einem Film fast aus der Mitte einer Familie von Ultrachristen erzählt? Hatten sie keine Scheu vor dem Filmer?

Der 1921 in London geborene Richard Leacock bastelte zeitlebens daran, die Technik von ihrer sperrigen Anwesenheit zu befreien, beispielsweise indem er selbst eine Super-Acht-Kamera entwickelte, die so handlich wie einfach zu bedienen war und parallel auch noch Ton aufzeichnete.

Doch in den Sechzigern muss das raue, vom Fluss der Ereignisse mitgerissene Direct Cinema, als dessen Mitbegründer Leacock gilt, auch auf die Betrachter verstörend gewirkt haben - selbst Straßen-Interviews wurden inszeniert, ausgeleuchtet und von ausformulierten Skripten abgelesen. Und auch wenn man heute Richard Leacocks Werk als ein sich vollkommen erfülltes Zukunftsversprechen sehen kann, bleibt Irritation: Die Aufnahmen wirken so hybrid wie Farbfotografien von der Zarenfamilie.

Von der Zelluloid-Vorzeit bis zur Smartphone-Ära

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Dokumentation war ja eines der großen Themen der vergangenen Jahre in der Fotografie, aber vor allem im Kunstfilm-Video - und eine ganze Generation von Künstlern hat sich mit dem Medium befasst, das sich in Folge von Klassikern wie Jean Rouch als die Wirklichkeitsmaschine schlechthin präsentierte: Die immer perfektere Videotechnik suggerierte auf Biennalen und politischen Ausstellungen fast die Anwesenheit des Gezeigten.

Eine jüngere Generation ist da skeptischer. Yto Barrada, die in Marokko mit der Cinémathèque de Tanger ein Archiv für Film gegründet hat, montiert Found Footage vom Flohmarkt zu sehr überzeugenden Bildfolgen in den grellen Farben des Heimkinos, die sie mit ruhig erzählten, eigenen Kindheitserinnerungen zusammenhält.

Es ist nicht allein der grelle Charme alter, ungelenker Aufnahmen, deren Sinnzusammenhang mit dem Besitzerwechsel verloren gegangen ist, der hier anrührt. Sondern, dass ein Gefühl von Universalität vor diesen Bildern sich in der Erkenntnis auflöst, dass das Medium letztlich stärker ist als die Individualität jeder Familie.

Duncan Campbell pusselt "Make it new John" (2009) gleichfalls aus gefundenem und ergänztem Material zusammen, während Luke Fowler und Anna McLauchlan ihre "Paddington Collaboration" (2007) selbst an allen Ecken und Enden zu unterlaufen scheinen - die erzählte Tour wird immer unglaubwürdiger, je häufiger die Kamera über schottische Hinterhöfe schwenkt.

Ein halbes Jahrhundert ist im Medium Filmdokumentation ein epochaler Zeitraum, so erzählt reicht die Geschichte von Leacocks Dogmen der Zelluloid-Vorzeit bis zur grenzenlos-unbedarften Verspieltheit der Smartphone-Ära. Ein Kontrast, der vor allem die alte Avantgarde des im Jahr 2011 verstorbenen Richard Leacock gut dastehen lässt: Nicht nur als Manifest, sondern als irrsinnige, eigengesetzliche Expeditionen in eine noch ferne Zukunft, in der jeder seines Nächsten Exhibitionist wird.

Roll Over. Reflections on Documentary, after Richard Leacock . In der Temporary Gallery, Köln, bis zum 21. April.

© SZ vom 12.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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