Ausstellung: Matthew Barney:Traum und Trauma

Biomorph, bizarr, phantastisch: Matthew Barney schreibt die Mythen der Gegenwart - eine Ausstellung in München.

Willibald Sauerländer

Es gehört zu den Chancen privater, nichtkommerzieller Galerien, dass sie eigenwillig und geduldig agieren können, sich der Hast, der Publicity der öffentlichen Szene zu entziehen vermögen. So kennzeichnet es die Münchner Sammlung Goetz, dass dort oft gerade die schwierigen und hermetischen Experimente der gegenwärtigen Kunst beobachtet und langfristig erprobt werden.

Drawing Restraint 9, 2005, Production Still.

Drawing Restraint 9, 2005, Production Still.

(Foto: Foto: Chris Winget/ Courtesy Sammlung Goetz/ Matthew Barney 2005)

Dabei geht es ersichtlich nicht nur um die Kunst allein, sondern um die Auslotung der Befindlichkeit des Menschen unter Lebensbedingungen, die sich durch den Zugriff der Wissenschaft, die Beschleunigung der Ökonomie, die Abschaffung der Privatsphäre rapide verändern. Wie reagiert die Kunst auf diese zugleich verstörenden und stimulierenden Prozesse? Wie sehen ihre Träume in dieser extremen Situation aus?

Man darf vermuten, dass es solche Fragen waren, welche beim Besuch der Documenta IX im Jahr 1992 die Aufmerksamkeit der Sammlerin Ingvild Goetz auf die frühen Arbeiten des damals 25-jährigen und eben erst bekannt werdenden Amerikaners Matthew Barney zogen. Barneys Werk ist eine sensible, subtil verschlüsselte Antwort auf die genetischen und technischen Manipulationen, denen die Menschen heute zwischen Hirnforschung, hybridem Leistungsdruck und den verfallenden gesellschaftlichen Normen von gestern ausgesetzt sind.

Diese Antwort ist von akribischer, medizinisch geschulter Intelligenz - Kunst als eine Art Leistungssport - und ästhetischem Raffinement in der Besetzung phantastischer Themen, im Umgang mit synthetischen Materialien und in der Entfaltung einer bis zum Schamlosen verlockenden Farbigkeit.

Gynäkologie und alte Sagen

Seit 1992 hat die Sammlerin Matthews Arbeit verfolgt, vieles von seinem Œuvre gekauft, hat den Künstler beim Agieren beobachtet, einem Agieren, das bis zum Imaginären verrückt und von szientifistischer Präzision ist. Die Beschäftigung mit Matthew Barney verlangt Zeit, weil seine Kreationen nie eine unmittelbare, sondern nur eine chiffrierte, metaphorische Evidenz besitzen. Er steht abseits von den neoexpressionistischen Ausbrüchen, die in Übereinstimmung mit einer theoriemüden Zeitstimmung die Kunstszene überfluten. Aber er hat auch nichts mit dem Lärm der lauten Performances zu tun. Man kann diesen Einzelgänger keiner geläufigen Kategorie zuordnen.

Gewiss, er kann ein feinnerviger Zeichner sein, aber auf sorgfältig präpariertem Papier notiert er nur die Gespinste seiner Träume und Phantasmagorien. Er ist kein Maler, erst recht kein Bildhauer. Aber auch dem inzwischen redundanten Typus des Videokünstlers gesellt er sich nicht bei, weil seine Filmaufnahmen sich dem unmittelbaren visuellen Zugang durch ihre hieroglyphische Metaphorik entziehen. Seit den neunziger Jahren macht er Filme, aber ist beileibe kein Cineast. Er hat seine hybriden Phantasien in "Motion-Pictures" umgesetzt, weil ihn statische Bilder nicht interessierten, sondern nur die Verwandlungen, die Metamorphosen, die Degenerationen.

Dafür hat er sich Stoffe und Materialien von überallher geholt: aus dem Leistungssport, der Gynäkologie, der Werbung wie aus den Sagen der Griechen oder Kelten. So hat er eine Privatmythologie der biomorphen Veränderungen, des Unidentischen, Manipulierten entworfen - faszinierend und erschreckend wie Jules Verne oder de Sade und manchmal fatal nahe am Geheimkult oder am Kitsch - wäre da nicht immer die Ironie seiner hoch gespannten Intelligenz.

Auf der nächsten Seite zeigt uns der zerebrale Phantast Barney, wie verrückt unsere angeblich nachmythische Welt ist.

Traum und Trauma

Aber ist es nicht ein paradoxes Unterfangen, diese proteischen Bildphantasien im statischen Gefüge einer Ausstellung still stellen zu wollen? Matthews phantastische Geschichten von Eierstöcken und Bienenwaben, von Hybriden und Mischwesen, von der embryonalen Trennung der Geschlechter, welche das Leben in weibliche und männliche Energieströme spaltet, die nie zu einem Gleichgewicht finden - lassen sie sich nicht nur über die bewegte Metaphorik seiner Filme vermitteln?

Drawing Restraint 9, 2005, Production Still.

Drawing Restraint 9, 2005, Production Still.

(Foto: Foto: Foto: Chris Winget/ Courtesy Sammlung Goetz/ Matthew Barney 2005)

Nicht zufällig hat er diese Filme nach dem "Cremaster" benannt, dem Muskel, welcher bei Temperaturveränderungen oder emotionalen Vibrationen die männlichen Hoden hebt oder senkt. Nie kommt der Strom des sich ständig verändernden Lebens auf diesen Bildern zur Ruhe. Das erinnert manchmal an Vorstellungen der materialistischen Philosophie des Altertums, an Stellen bei Lukrez.

Aber nun die Überraschung! Das puristische Gehäuse der Sammlung Goetz mit seinen schneeweißen, aseptischen Wänden erweist sich als eine suspendierende Folie, welche die Phantasmen Matthews schwebend zur Ruhe bringt. Sie werden minimalisiert, voneinander isoliert, zugleich aber wirkungsvoll gegeneinander ausgespielt, und so entsteht so etwas wie eine Ausstellungserzählung.

Sie hebt in den oberen Räumen verhalten an, steigert sich aber schon im dritten Raum mit den Bildern der "Hacks", der Motorradfahrer auf der Isle of Man, ins Extreme, wird im Untergeschoss um die schwarzrandige Vitrine mit den "Ereszkedés" genannten Zeichnungen farbig aufgeladen und kulminiert in einer audio-visuellen Installation, bei der alle fünf "Cremaster"-Filme simultan ablaufen. So verwandelt sich die Ausstellung in eine Narration über Barneys Themen. Deren Abfolge ist ein hoch codiertes ikonographisches Programm, wie man es in enzyklopädischen Bildfolgen aus älterer Zeit antrifft - nur zerbrochen in biomorphe, medizinische, sektiererische Bizarrerie.

Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, von dieser inkohärenten Ausstellungserzählung kontinuierlich zu berichten. Das wäre, als wolle man "Finnegans Wake" wie einen Fortsetzungsroman lesen. Man kann sich nur auf diese sprunghaften Evidenzen zweiten Grades einlassen, auf die Gefahr hin, mit seinen Assoziationen schief zu liegen.

Melodram einer Hinrichtung

Die kleinen Bilder mit den in einen Zweikampf verwickelten Satyrn sollte man nicht humanistisch lesen. Da überlebt keine Antike. Das sind Verkörperungen der heutigen Verbindung des Hybriden mit dem Athletischen. Die gelben und blauen Motorradfahrer, die auf der Isle of Man kreisen, hängen mit weißen Schnüren an einem männlichen Hodensack, einem Samenbeutel. Der Zeppelin, welchen die Reifenfirma "Goodyear" fliegen lässt, wird zu einem Traumschiff. In der Kabine sitzt das Starlet "Goodyear" in einem weißen Satinhemdchen mit unzüchtiger Pose unter dem Tisch und hat aus Weinbeeren die Figuration für eine Revue ausgelegt.

Das ist ein sehr amerikanischer Traum. Ein amerikanisches Trauma: der lüsterne Konnex zwischen Kapitalverbrechen und Todesstrafe wird von Matthew Barney ins Melodramatische gewendet. Der Mörder Gilmore, bekannt durch einen Roman von Norman Mailer, tanzt vor seiner Hinrichtung in einem Art-Deco-Ambiente mit seiner Freundin Nicole Baker. "The Executioners Song" heißt dieses Bild. Auf dem Triptychon "Mahabyn" verwandeln sich die Initiationsriten der Freimaurer in psychosexuelles, an ein Musical erinnerndes Theater.

Bewunderer attestieren Matthew Barney seine Vertrautheit mit der alten Mythologie. Aber solche Bewunderung ist eine gebildete Verkürzung. Es ist viel aufregender. Matthew Barneys Werk macht sichtbar, wie viel Mythisches in den Wettkämpfen, Konkurrenzen und Riten von heute verborgen ist. Der zerebrale Phantast zeigt, wie verrückt unsere eigene, angeblich nachmythische Welt ist.

"Matthew Barney", Sammlung Goetz, München. Bis 29. März 2008. Info: www. sammlung-goetz.de. Katalog 35 Euro.

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