Süddeutsche Zeitung

Ausstellung in New York:Die Zukunft des Landlebens

Lesezeit: 5 Min.

Von Christian Zaschke

Rem Koolhaas seufzte. Er wusste, dass er gleich eine Rede würde halten müssen, und nun ist es nicht so, dass der weltberühmte Architekt Koolhaas ungern über sich und seine Arbeit spräche, aber in diesem Moment im Guggenheim-Museum in New York hätte er erkennbar lieber durchgeatmet und genossen, dass sein großes Projekt der vergangenen vier Jahre nun endlich ein Publikum hat.

Seit wenigen Tagen ist die von Koolhaas maßgeblich gestaltete Ausstellung "Countryside. The Future" für die Öffentlichkeit zugänglich, und nun stand er also in der Mitte des Guggenheims, er schaute auf all die New Yorker, die mit Weingläsern bewehrt darauf warteten, dass er ein paar Worte sprechen würde. Und er seufzte. Der Seufzer schien zu sagen: Kann die Ausstellung jetzt nicht einfach für sich selbst sprechen? Vielleicht schwang in diesem Seufzer auch die leise Sorge mit, dass die Ausstellung das womöglich nicht kann.

Koolhaas' Ausstellung ist ausdrücklich politisch, sie ist schlau, sie ist erhellend. Aber sie ist auch fordernd, sie ist sprunghaft, sie fordert den Besuchern viel ab. Sie legt Spuren in alle Welt, sie greift weit in die Geschichte, und am Ende vertraut sie darauf, dass die Besucher all die Fäden zusammenbinden werden. Das ist allerdings gar nicht so einfach.

Ihren Ursprung nahm diese Ausstellung vor gut zehn Jahren. Koolhaas und seine Freundin, die Designerin Petra Blaisse, fahren gern in die Schweiz, in ein Dorf im Engadin, wo die Eltern von Blaisse ein Ferienhaus besaßen. Sie stellten fest, dass immer weniger Menschen im Dorf wohnten, es aber trotzdem permanent wuchs.

Koolhaas ist bekannt dafür, dass er das Antlitz von Städten verändert hat. In Rotterdam, seiner Heimatstadt, erfand er eine Vertical City, drei riesige, miteinander verbundene Hochhäuser. In Peking baute er das Hauptquartier des Staatsfernsehens CCTV. Er schuf Konzerthallen, Museen, revolutionäre Bibliotheken, er dachte und baute meist groß.

Auf dem "Land" gibt es heute Data-Center, Auslieferungszentren, Ferienhäuser

Aber im Engadin, im Dorf, dämmerte ihm erstmals, dass aus den Städten etwas diffundiert, das die ländlichen Gegenden fundamental verändert. Warum das Dorf wuchs, obwohl die Menschen wegzogen? Ganz einfach: Viele der ursprünglichen Bewohner zogen in die Städte, weil sie nur dort noch Arbeit fanden. Stattdessen kamen die Städter und bauten sich Ferienhäuser, die sie vielleicht ein, zwei Wochen im Jahr bewohnten. Während der restlichen Zeit werden viele dieser Häuser von Menschen gehütet, die größtenteils von weit herkommen, so dass aus dem Schweizer Dorf eine internationale Enklave wurde. Eine Enklave mit Facetten.

"Einmal sprach ich im Dorf einen Bauern an", erzählt Koolhaas, "zumindest dachte ich, dass er Bauer war, er sah so aus." Es stellte sich heraus, wie Koolhaas erzählt, dass es sich um einen unzufriedenen Nuklear-Wissenschaftler aus Frankfurt handelte, der in seiner Freizeit als Landwirt auftrat. Für Koolhaas war es der Beginn einer umfassenden Ermittlung.

Die Grundthese seiner Ausstellung, wenn man sie so knapp zusammenfassen kann, ist diese: Die Konzentration des menschlichen Lebens auf den urbanen Raum hat dazu geführt, dass sich der ländliche Raum in ungekannter Weise verändert hat. Koolhaas zufolge sind weite Teile des nicht-städtischen Raums mittlerweile vor allem dafür da, Versorgungsaufgaben für die Städte zu übernehmen, und er meint nicht nur die Produktion von Nahrung. Sondern auch Data-Center, die in riesigen Hallen im Nirgendwo erbaut werden. Auslieferungszentren zum Beispiel von Amazon, die in Landschaften des Nichts angesiedelt sind. Von Kunstlicht durchflutete Hallen, in denen Tomaten, die unvermeidlichen Tulpen und Kresse gezüchtet werden, ohne Erde, ohne Sonne.

Koolhaas sagt: "Ich habe im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts bemerkt, dass, während wir unsere Energie und unseren Intellekt auf den städtischen Raum fokussierten, die ländlichen Areale sich dramatisch verändert haben, und zwar unter anderem durch den Einfluss der Erderwärmung, der Marktwirtschaft, durch den Einfluss von US-Tech-Konzernen, durch afrikanische und europäische Initiativen, durch chinesische Politik und durch vieles mehr. Diese Geschichte ist in ihrem vollen Ausmaß noch nicht erzählt worden."

Im Jahr 2014 haben die Vereinten Nationen einen Bericht veröffentlicht, dem zufolge die Hälfte der Menschheit in Städten lebt. Bis 2050 könnten es, wenn man der Erhebung glaubt, mehr als 70 Prozent sein. Jedoch bestehen 98 Prozent der Landoberfläche der Erde aus nicht-städtischem Raum.

Die Ausstellung nimmt einen sehr langen Anlauf, um zu fragen, was das für heutige Gesellschaften bedeutet. Geradezu genüsslich breitet sie aus, was der Begriff der "Countryside", was das ländliche Leben im Laufe der Jahrhunderte bedeutet hat. Man erfährt, dass Römer und Chinesen vor mehr als 2000 Jahren vermutlich ähnlichen Ideen über das Landleben anhingen. Das wird anhand eines 60 Meter langen Wandteppichs illustriert.

Von Ciceros Konzept der würdevollen Muße geht es direkt aufs Land in die Wellness-Fabrik

Man sieht auf den ersten 20 Metern Chinesen und Römer, die sich in ländlichen Umgebungen verlustieren. Sowohl bei den Chinesen als auch bei den Römern bedeutete die Stadt Arbeit und das Land Muße. Später, auf den Metern 20 bis 60, sieht man unter anderem, wie das Konzept der Muße dieser, wenn man so will, chinesisch-römischen Antike immer weiter herunterkommt, bis es sich schließlich in die Wellness der Moderne verwandelt hat. Man muss diese Verbindung nicht zwingend finden, aber dennoch ist es eine der schönsten Pointen der Ausstellung, wie sie leichtfüßig von Ciceros "Otium cum dignitate", der würdevollen Muße, zu den Wellness-Fabriken der Gegenwart kommt.

Zu den deutlichsten Ausdrücken der inszenierten Natur zählt der Golfplatz, und es gibt in dieser Ausstellung das Bild eines Golfers, aufgenommen von hinten, der gerade einen Ball in die Weite der domestizierten Natur schlägt. Im Kontext der Ausstellung ist dieser Golfer deutlich als Idiot zu erkennen, und das Gerücht in New York sagt, der Golfer auf dem Bild sei Norman Foster. Foster ist, wie Koolhaas, ein weltberühmter Architekt, und die beiden sind nicht unbedingt Freunde. Koolhaas streitet vehement ab, dass er wisse, wer der Golfer auf dem Bild sei. Aber sollte es tatsächlich Foster sein, wohnte der Ausstellung ein nicht unbedingt subtiler, aber doch recht lustiger Mittelfinger inne.

Das Guggenheim ist ein rundes Gebäude, wer die Ausstellung erleben will, läuft in einer großen Spirale himmelwärts. Es sind sechs Stockwerke. Früh wandern die Besucher an einer Wand vorbei, auf der sämtliche Fragen notiert sind, die Koolhaas sich in den vergangenen Jahren gestellt hat. Es sind Hunderte. "Haben Pflanzen eine Erinnerung?" Oder: "Waren die Bäder in Caracalla in Rom so groß wie die Fabrik von Tesla in Reno?" Oder: "Werden wir eine Alternative zum Tod finden?" Koolhaas hat einen ganz guten Sinn für Humor.

Natürlich werden die großen Themen abgehandelt, zum Beispiel die Rolle des ländlichen Raums in Diktaturen: landwirtschaftliche Projekte in Maos China, Nahrungsproduktion in Stalins Sowjetunion, die Autobahnen in Hitlers Deutschland. Dazwischen finden sich, wie zur Erholung, immer wieder zarte Projekte, die zeigen, wie Menschen im Ländlichen anders zusammenleben als in der Stadt. Eine Dokumentation zeigt zum Beispiel, wie das italienische Dorf Riace mit seiner überalterten Bevölkerung nur deshalb überlebte, weil die Einwohner Flüchtlinge aufnahmen und das Dorf auf diese Weise neu belebten.

Koolhaas war immer ein Freund der großen Städte. Er schätzte besonders New York als einen Ort, an dem sich Schicht auf Schicht stapelt, und er liebte es, sich in diese Schichten hineinzudenken, was auch insofern interessant ist, als er an vielen Orten der Welt wichtige Gebäude errichtet hat, aber nicht in New York. Er liebt New York, aber diese hartleibige Stadt hat, wenn man es etwas zugespitzt formuliert, sich des Architekten Koolhaas erwehrt.

Dafür heißt sie ihn nun bis Mitte August an einem ihrer schönsten Orte, dem Guggenheim, mit einer bedeutenden Ausstellung willkommen. Koolhaas betont gern, dass er nicht nur Architekt sei, sondern auch Autor, und tatsächlich hat er diese Ausstellung weniger als Architekt gestaltet, sondern eher als Schreiber, als Sammler, als Fragender. So kommt es, dass inmitten Manhattans, dem wohl urbansten Raum der Welt, der große Städter Rem Koolhaas verkündet: Die Zukunft liegt auf dem Land.

Countryside. The Future , Guggenheim, New York. Bis 14. August. Infos unter: www.guggenheim.org

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Quelle:
SZ vom 25.02.2020
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