Ausstellung in München:Kunstschneider

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Lange hat sich niemand mit dem Werk von Franz Erhard Walther beschäftigt. Das Haus der Kunst ändert das.

Von Catrin Lorch

Franz Erhard Walther breitet die Arme aus und tritt einen Schritt zurück. Dahin, wo der Kreis aus rotem Stoff hängt. Nähte zerteilen als schmale Linien das perfekte Rund, von dem sich vier helle Bänder wie Strahlen ausbreiten. "Erinnert an Leonardo, oder?", sagt der Künstler, der dasteht wie der vitruvianische Mensch. Das sei ihm aber gar nicht bewusst gewesen, als er im Jahr 1963 die "Rote Scheibe mit vier Bändern" nähte. Als er sich als Student im Atelier seiner Freundin Johanna umgeschaut habe, die ihr Geld als Näherin verdiente, sei ihm vielmehr bewusst geworden, was man mit Stoff alles machen kann - und dass die Kunst bis dahin so wenig damit anfangen konnte.

Wenn Franz Erhard Walther erzählt, dann klingt ein halbes Jahrhundert Kunstgeschichte ganz nah. Dass ein Werk "radikal" gewesen sei, betont er in dem gleichen Tonfall, in dem er andere "komisch" nennt. Beim Rundgang vor der Eröffnung seiner Ausstellung im Haus der Kunst ist es dann eine Suite von Zeichnungen, die im Verlauf des Gesprächs sogar beide Adjektive angehängt bekommen, komisch und radikal: technisch so perfekt wie Blaupausen umreißen sie in glatten Linien rätselhafte Formen - sind es Schrauben, sind es Moleküle? "Ich konnte schon als Jugendlicher perfekt realistisch zeichnen", erinnert Walther an den Jungen, der 1939 im hessischen Fulda geboren wurde, "also interessierte mich das nicht mehr". Wenn es Vorbilder für die eigenartigen Zeichnungen gegeben habe, die er als Sechzehnjähriger nach der Schule zu Papier brachte, dann seien das vielleicht die präzisen Kanten von Plätzchenformen gewesen (seine Eltern, so steht es in der Biografie, hatten zunächst versucht, aus dem Kind einen Keksfabrikanten zu machen).

So einer war nicht nur in der hessischen Provinz, dem damaligen Zonenrandgebiet, ein Außenseiter. Auch als angehender Schriftgestalter stieß er an der Offenbacher Werkkunstschule nicht eben auf Verständnis, wenn er höchstens ein oder zwei Wörter wie Afrika oder Aufbau auf einzelne Bögen setzte. Auch die Frankfurter Städelschule warf ihn schnell wieder raus. An der Düsseldorfer Akademie, wo er sich in die Klasse des Malers K. O. Götz einschrieb, traf er zwar auf Studenten wie Gerhard Richter, Sigmar Polke oder Konrad Fischer, doch die meisten machten sich über ihn lustig und seine aus kräftigen Stoffen gesteppten Werke flogen bei Kissenschlachten durch die Ateliers.

Dennoch blieb Franz Erhard Walther beim Stoff, arbeitete mit Johanna, die er bald heiratete, jahrelang stupende an einem Werk, das monumental werden sollte. Der "Erste Werksatz" besteht aus 58 Skulpturen. Und das Besondere ist nicht, dass sie aus Stoff sind, sondern dass sie "aktivierbar" sind, aufgespannt, angezogen, betreten und durchkrochen werden sollen. Walther holte die Skulptur vom Sockel und verwandelte sein Publikum in Befühler, Umarmer, Behütete - die Grenzen zwischen Werk und Betrachter wurden verwickelt wie ein Knäuel Stoffreste.

Viele seiner Studenten prägten den zeitgenössischen Diskurs - Walther war nur da

Der "Werksatz", den er noch als Student begonnen hatte, katapultierte Walther dann direkt in die Weltliga der Kunst: Kurz nachdem er im Jahr 1967 mit einem Stipendium nach New York gegangen war, wurde er zur Schau "Spaces" im Museum of Modern Art eingeladen und konnte den "Werksatz" dort wochenlang täglich selbst aktivieren. Walther war danach eine feste Größe der jungen, amerikanischen Szene und der Schweizer Kurator Harald Szeemann lud ihn 1969 zur epochalen Ausstellung "Live in your head: When Attitudes become Form" ein. Das Treffen, zu dem sich Marcel Duchamp mit dem jungen Deutschen verabredete, fand allerdings nicht mehr statt. Duchamp starb am Vormittag des Tages.

Jana Baumann, Kuratorin im Haus der Kunst, rückt diese Zeit mitsamt dem so zentralen "Werksatz" in ihrer Ausstellung nun allerdings fast an den Rand, sie hat ihn in einem kleinen, hinteren Saal arrangiert. Die Matten in Olivgrün, die so sauber wie Hemden gefalteten und verschnürten Bündel aus weißem Nesselstoff, kleine, tiefrote Kissen und eine aufragende, dick gepolsterte Weste, wirken so nützlich und vielversprechend, als habe man einen Armeetransporter ausgeleert oder die Kulissen eines Wandertheaters geplündert. Schon die Vorstellung, wie unterschiedlich jede einzelne Skulptur ausgepackt, aufgerollt oder entfaltet wird, evoziert Bewegung, Körperlichkeit, Aktion. Und schnell erkennt man sie dann auch wieder, wenn man in der angrenzenden Halle zwei Frauen begegnet, die - die Köpfe durch eine lange Stoffbahn verbunden - ihr Gewicht ausbalancieren. Daneben liegen weitere "Ausstellungskopien" aus dem "Werksatz" aus weißem Nesselstoff bereit, Kragen, Stoffbahnen, Bänder.

2017 erhielt er in Venedig den Goldenen Löwen als bester Künstler der Ausstellung

Es ist in ihrer Gesamtheit eine überraschende Ausstellung geworden. Nicht nur weil sie weit ausgreift und auch unbekannte Werke aus mehr als 60 Jahren zusammen bringt. Sondern deswegen, weil sie in Überfülle ausbreitet, was nach dem "Werksatz" kam. Denn auch ein Künstler, dem etwas so Epochales gelungen ist, wie beispielsweise die Entdeckung der Perspektive, wird weiter malen. Franz Erhard Walther, der im Jahr 1971 aus New York zurück kehrte, lehrte jahrzehntelang in Hamburg als Professor und stellte bei vier Documentas aus. Er gehörte fest zum Erbe der deutschen Avantgarde der Nachkriegszeit - wie ein Erbstück, das einfach da ist, ohne wirklich angesehen zu werden. Während neue Werke wie die "Wandformatonen" oder die "Handlungsbahnen" in den bedeutenden Museen der Welt installiert wurden, prägten ausgerechnet die Studenten aus seiner Klasse, Christian Jankowski, Rebecca Horn, John Bock, Martin Kippenberger, Lili Fischer und Jonathan Meese den Diskurs um Videokunst, Fotografie, neue Medien, Performance oder Malerei prägten. Und Walther war nur da.

Als Franz Erhard Walther dann im Jahr 2017 in Venedig den Goldenen Löwen als bester Künstler der Ausstellung erhielt, war das eine mindestens so große Überraschung, wie die gleichzeitige Auszeichnung des Deutschen Pavillons von Anne Imhof. In den weiten Hallen des Arsenale hatte seine aus goldgelber Baumwolle gefertigte "Modellierung", entstanden 1985, sich nicht nur gegen die unzähligen Textilien behauptet, die diese Weltkunstschau dominierten. Die sechs Meter lange "Modellierung" überstrahlte auch gewaltige Installationen, wandbreite Projektionen und leuchtendbunte Gemälde. Nicht wenige Betrachter standen sehnsüchtig vor den schlanken, hoch aufragenden Stoffrahmen und träumten sich in diese Kammern hinein, dem schönsten Kleid, das die Avantgarde sich je zugeschnitten hat.

Franz Erhard Walther. Shifting Perspectives , im Haus der Kunst, München. Bis zum 2. August. Es erscheint ein Katalog zum Preis von 60 Euro.

© SZ vom 07.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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