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Ausstellung "Hamlet - Tell My Story":Der Allerweltsfreund

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Shakespeares "Hamlet" ist der erfolgreichste Pophit des Theaters, die Traumrolle aller Schauspielheroen. Und jede Generation erfindet sich den Dänenprinzen neu - die jüngere etwa als "Simpsons"- oder "Star Trek"-Version. Eine Ausstellung in München zeigt jetzt die Geschichte des Stücks auf deutschen Bühnen.

Von Christine Dössel

Am Ende darf jeder selbst zum Hamlet werden. Auf einer lose gezimmerten Bretterbühne, die hölzern das Theater der elisabethanischen Zeit zitiert, lädt das Deutsche Theatermuseum in München alle Besucher zum "Hamlet-Spiel": Bitteschön, "Ihr Auftritt"!

Aus fünf Totenköpfen, darunter ein blutroter und ein gruftig-grüner, gilt es einen auszuwählen, zum Beispiel den strassbesetzten, glitzernden, der an den Diamantenschädel von Damian Hirst denken lässt. Schön fest in der ausgestreckten Hand halten, Denkerposition und Grüblerstirn einnehmen, dann geht es auf Knopfdruck los: Auf den transparenten Gazeleinwänden, die wie in einer Hightech-Wäscheleinen-Installation im Halbkreis vor dem Bühnenpodest hängen und in einer Dauerschleife berühmte "Hamlet"-Monologe aus verschiedenen Inszenierungen und Filmen zeigen (Kenneth Brannagh, Mel Gibson, Laurence Olivier), kann man sich per Videobeamertechnik plötzlich selbst sehen, mit dem Totenschädel in der Hand.

Dazu wird, wie beim Karaoke, der passende Text eingeblendet, zum Ablesen und Selbersprechen: Nein, nicht "Sein oder nicht sein", Hamlets weltschmerzberühmter Monolog aus dem 3. Aufzug, 1. Szene, der fälschlicherweise immer mit dem Totenkopf in Verbindung gebracht wird. Sondern die Totengräberszene im fünften Akt, in der Hamlet auf dem Kirchhof, wo gerade das Grab für die tote Ophelia ausgehoben wird, auf Yorricks Schädel stößt, "des Königs Spaßmacher", und in Anbetracht des knochigen Fundstücks über den Gang allen Fleisches sinniert.

Gerade bei Schülern, sagt Ausstellungschefin Claudia Blank, sei dieser interaktive "Hamlet" ein voller Erfolg. Eine Gruppe holländischer Gymnasiasten habe sich auf der stilisierten Globe-Theaterbühne neunzig Minuten lang dem Rezitationsspiel hingegeben, aber es seien auch schon "ältere Damen nicht zu bremsen" gewesen. Womit ein Ziel der Schau schon mal erreicht wäre: "Hier soll jeder seinen Hamlet finden."

Dem Stück angemessen ist das Laienspiel auch, geht es doch im "Hamlet" grundsätzlich auch um die Theaterpraxis selbst, um Verstellung, Maskerade und die Wirkkraft des Schauspiels, durch die Hamlet den Königsmörder Claudius zu überführen gedenkt ("Die Mausefalle"). "Tell My Story. Hamlet und das deutsche Theater" heißt die Liebhaber-Ausstellung, die Claudia Blank, Leiterin des Deutschen Theatermuseums München, und ihr Kollege Winrich Meiszies vom Theatermuseum Düsseldorf gemeinsam anlässlich des 450. Geburtstags von Shakespeare ausgeheckt und erfrischend populär aufgemacht haben: ein Rundgang zum Stück aller Stücke, mit Ausflügen in die reiche Aufführungs- und Darstellungsgeschichte ebenso wie in den Bereich der Varia und Kuriosa rund um "Hamlet".

Denn die Tragödie vom zögerlichen Dänenprinzen, der den Mord an seinem Vater rächen soll und darüber fast wahnsinnig wird, dieses berühmteste, meistgespielte und für viele mit Abstand beste, tiefgründigste Drama der Weltliteratur hat früh schon Eingang gefunden in den Alltag und die Populärkultur. "Etwas ist faul im Staate Dänemark", "Die Zeit ist aus den Fugen", "Der Rest ist Schweigen": "Hamlet" ist zum Zitatenschatz und zur Metapher geworden, die Geschichte des Dänenprinzen zum Mythos, vielfach verfilmt, adaptiert und parodiert.

Shakespeare der Klingone

Walt Disneys "König der Löwen" basiert ebenso auf der "Hamlet"-Story wie "Star Trek VI: Das unentdeckte Land" - mit der resultierenden Frage: War Shakespeare Klingone? Es gibt eine "Hamlet"-Folge der "Simpsons", eine "Hamlet"-Schlussszene in "South Park" und eine entzückende Ausgabe der "Sesamstraße", in der Patrick Stewart, der verdiente "Raumschiff Enterprise"-Captain Picard, mit dem Großbuchstaben "B" in der Hand deklamierend über das Alphabet sinniert: "B or not a B? That is the question . . ."

"Hamlet" - so heißt inzwischen sogar eine Saatmais-Sorte, laut Hersteller zeichnet sie sich durch eine "herausragende Jugendentwicklung in Verbindung mit einer sehr guten Kältetoleranz" aus. In einem Schaufenster ist zu sehen, was der Markt sonst noch an "Hamlet"-Produkten bietet: vom gleichnamigen Parfum über Zigaretten bis hin zu Herrenschuhen. Die Biografie des Kochs Eckart Witzigmann heißt lustigerweise "Hamlet am Herd".

Eine Schlagzeilenwand demonstriert, dass Shakespeares zaudernder Titelheld besonders oft für Sportler herhalten muss, wenn sie mal nicht wie gewohnt draufhauen: "Tennis-Hamlet Tommy Haas", "Luca Toni gibt den Hamlet". Der Ausruf "Deutschland ist Hamlet" freilich ist schon älter. Er stammt von dem Vormärz-Dichter Ferdinand Freiligrath, der den Satz 1844 aus Enttäuschung über die politische Ohnmacht des Bürgertums formulierte: Der Traum von Freiheit, der die Deutschen immer wieder heimsuchte - wie der Geist des toten Vaters den jungen Hamlet -, er konnte noch nicht in einer Revolution durchgesetzt werden.

Allerweltsfreund Hamlet. Sympathieträger und Identifikationsfigur. Traumrolle aller Schauspielheroen. Wer hat ihn nicht alles gespielt! Die Liste seiner Darsteller gleicht einem "Who is who" der Schauspielkunst - angefangen beim allerersten Hamlet Richard Burbage über legendäre Bühnenstars wie Alexander Moissi, Josef Kainz, Gustaf Gründgens bis hin zu aktuellen Hamlet-Darstellern wie Lars Eidinger oder August Diehl.

Die Präsentation beginnt mit einer solchen Ahnengalerie, mit Fotos der wichtigsten Hamlets auf deutschen Bühnen. Viele schöne, verträumt zergrübelte Männer mit Totenköpfen, dem ikonografischen Hamlet-Symbol, sind zu sehen: Horst Caspar, Peter Lühr, Will Quadflieg, Bernhard Minetti, Maximilian Schell, Oskar Werner, Ulrich Mühe, Helmut Lohner, Klaus Maria Brandauer.

Zum Teil kann man in Tonaufnahmen hineinhören. Ganz großartig: Kainz' "Sein oder Nichtsein"-Monolog von 1902, eine der ersten Theater-Schellackaufnahmen. Der Sprechmagier Josef Kainz (1858-1910), von vielen als der größte Schauspieler der Jahrhundertwende gefeiert, spielte und lebte den Hamlet 18 Jahre lang bis kurz vor seinem Tod. "Hamlet ist, wenn Kainz kommt", etablierte sich damals als Redewendung. Mehr als 50 Jahre später, 1962, bezieht sich Klaus Kinski auf Kainz als Vorbild, als er auf der Bühne des Berliner Sportpalastes neben anderen Klassiker-Monologen auch den Hamlet rezitiert und einen manierierten Sprechduktus anschlägt. Weil kein Regisseur mit ihm den Hamlet erarbeiten will, erfüllt sich Kinski seinen Traum selbst.

Frauen als Hamlet

Früh haben sich auch Frauen nicht von dieser Traumrolle abhalten lassen. Die Engländerin Sarah Siddons war 1777 die erste, in Deutschland folgte ihr 1779 Felicitas Abt nach, seither haben von Adele Sandrock über Sarah Bernhardt bis hin zu Angela Winkler (1999) und Bettina Hoppe (2011) immer wieder Schauspielerinnen ihren eigenen Zugang zur Prinzenrolle gesucht und gefunden. Auch gibt es nicht nur den "jungen, schönen, edlen" Hamlet, der das Bild in den Köpfen prägt. Gegenbesetzungen zum Hamlet romantischer Tradition gehören zur Aufführungsgeschichte.

Leopold Jessner besetzte 1926 in Berlin Fritz Kortner: mit blonder Perücke und wohlbeleibter Besessenheit - die Aufführung geriet zum Skandal. Peter Zadek inszenierte "Hamlet" 1977 in Bochum mit dem in jeder Hinsicht unprinzlichen Ulrich Wildgruber ganz frei und wild als "expressionistische Clownerie" (O-Ton Zadek). Ernst Wendt besetzte 1980 den korpulenten Lambert Hamel. Ulrich Tukur gab 1989 bei Michael Bogdanov in Hamburg ein gestresstes Terror-Kasperl mit fieser Clownsnase. Und als Hansgünther Heyme 1979 in Köln mit dem Fluxus-Künstler Wolf Vostell einen "Medien-Hamlet" konzipierte, markierte auf der von Bildschirmen überfüllten Bühne Wolfgang Robert den Hamlet als groben Kerl, alt, sprachlos, gebrochen. Seinen Sprechpart übernahm weitgehend der Regisseur.

So zeigt die Schau anhand von Szenenbildern und Wandtafeln auch, wie sich Sehgewohnheiten ändern und sich jede Generation mit den Mitteln des Regietheaters ihren eigenen "Hamlet" sucht und erfindet, mal mehr oder weniger politisch motiviert, von Max Reinhardt über Heiner Müller bis Christoph Schlingensief. Wer will, kann auf Tabletmonitoren tiefer in einzelne Inszenierungen einsteigen oder in Alben blättern, für Eilige gibt es auch eine Strichmännchen-Variante.

Erste Textfassung von 1603

Die erste überlieferte "Hamlet"-Textfassung, basierend auf den Erinnerungen eines Schauspielers, datiert aus dem Jahr 1603 und wird als "Bad Quarto" bezeichnet. 1604/05 folgt eine zweite Ausgabe, die "Good Quarto", die auf einem früheren Entwurf Shakespeares beruhen könnte. Die erste Gesamtausgabe von Shakespeares Dramen erscheint 1623, sieben Jahre nach seinem Tod, im Folio-Buchformat.

In Deutschland setzt das Shakespeare-Fieber 1776 in Hamburg ein, als Friedrich Ludwig Schröder in seinem Comödienhaus den "Hamlet" zur Aufführung bringt - mit Johann Brockmann in der Titelrolle. Das Gastspiel in Berlin ein Jahr später löst eine wahre "Hamlet"-Euphorie aus. Die Begeisterung hat im Grunde nie wirklich nachgelassen. Während Shakespeare den Franzosen als zu obszön und viel zu wenig regelkonform galt, wurde er hierzulande zu einem "deutschen Ehrenklassiker", wie der Präsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft Tobias Döring es formuliert: Shakespeare, das sei Pop.

Wenn dem so ist, dann ist "Hamlet" der größte Pophit aller Zeiten. Wer sich eingehender mit der Geschichte des Stücks auf deutschen Bühnen beschäftigen möchte, der lese das informative Begleitbuch, das zu der "Hamlet"-Ausstellung erschienen ist (Henschel Verlag, 18,95 Euro). Es trägt den originellen Titel "Sein oder Nichtsein". Tell My Story. Hamlet und das deutsche Theater.

Deutsches Theatermuseum München. Bis 22. Juni. Ab 24. Oktober im Theatermuseum Düsseldorf.

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SZ vom 25.04.2014
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