Süddeutsche Zeitung

Ausstellung:Die Ikone der Nation

Martin Luther, "der deutsche Prophet", wurde für allerlei Zwecke gebraucht und missbraucht. Eine Ausstellung in Ostwestfalen untersucht den Umgang mit dem Reformator vom Ersten Weltkrieg bis heute.

Von Rudolf Neumaier

Jede Zeit übertölpelt die Menschen mit ihren eigenen Medien. Im Jahr 1933, in dem die Hitler-Diktatur begann, galt es den 450. Geburtstag Martin Luthers zu feiern. Die nationalsozialistischen Propagandatrupps nutzten die Gunst der Stunde und erklärten den Jubilar und den Führer zu Brüdern im Geiste. Postkarten waren damals noch viel populärer als heute. Eine Postkarte mit Hitler-Porträt betexteten die Nazis mit einem Luther-Spruch: "Niemand lasse den Glauben daran fahren, daß Gott durch ihn eine große Tat tun will." Mit "durch ihn" konnte nur Hitler gemeint sein. So erschien Luther als der Prophet, der den Führer geweissagt hatte. Allerdings hatten die Nazis das Zitat an der entscheidenden Stelle manipuliert. Luthers Spruch heißt im Original: "daß Gott an ihm eine große Tat tun will" - an jedem Menschen also. Wenn wir heute von einer postfaktischen Zeit sprechen, dann herrschte damals ein präfaktisches Zeitalter oder, wie man will, ein parafaktisches: wahrheitsmäßig total neben der Spur.

Luther musste im vergangenen Jahrhundert als Pate der unterschiedlichsten Ideologien herhalten. Ebenfalls im Jahr 1933 formulierte dies der reformierte Theologe Karl Barth: "Die Zeiten nehmen sich offenbar das Recht, aus Luther (auch aus Luther!) je ihr eigenes Symbol zu machen", schrieb Barth fassungslos. Luthers Leben und Werk war nun mal eine reiche Fundgrube für Eklektizisten jeder noch so extremen Couleur, und wenn eine seiner unzähligen Losungen nicht ins Programm passte, wurde sie unterschlagen oder passend gemacht.

Das Museum Kloster Dalheim des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, südlich von Paderborn gelegen, zeigt jetzt eine Luther-Ausstellung, die unter den Festausstellungen zum 500. Jubiläum des Thesenanschlags einen Kontrapunkt markiert: Beleuchtet wird die Luther-Rezeption nur in den vergangenen 100 Jahren, seit 1917, die so mannigfaltig ist wie befremdlich.

Die Nazis hatten in protestantischen Gegenden mehr Wähler als in katholischen

"Luther und Hitler sind zwei Männer, von denen das deutsche Volk noch nach Jahrhunderten mit Ehrfurcht spricht." So beginnt ein Schüleraufsatz im November 1933. Exponate wie dieses, die aus dem Alltagsleben stammen, machen die von Ingo Grabowsky geleitete Ausstellung sehenswert. Sie zeigen, wie sehr einfache Menschen in eigenwillige Lutherdeutungen involviert waren und wurden. Die Nazis konfrontierten schon Kinder mit ihrer Hetze gegen Juden, dabei zogen sie Luther-Worte aus dessen antisemitischem Nachlass. Ein damals sehr beliebtes Kinderbuch trug den Titel "Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid" - wieder eine geringfügige Abwandlung eines Luther-Originals. Als Julius Streicher, der Herausgeber des NS-Organs Der Stürmer als Hauptkriegsverbrecher auf der Nürnberger Anklagebank saß, sagte er, eigentlich müsse doch Luther angeklagt sein, denn schon er habe die Vernichtung der Juden gefordert. Streicher und Gesinnungsgenossen wie Walther Linden hatten antisemitische Lutherschriften weidlich für die eigene Propaganda ausgeschlachtet.

Anhand von Statistiken zeigt die Ausstellung, dass Hitler in protestantischen Gegenden deutlich mehr Wähler hatte als in katholischen. Die "Deutschen Christen", die versuchten, in der evangelischen Kirche den Ton anzugeben, hatten das Kreuz und das Hakenkreuz in ihrem Emblem. Sie bezeichneten sich selbst als "SA Jesu Christi", am Ende ihrer Gebete riefen sie "Heil" - und nicht "Amen". Das Alte Testament war ihnen wegen "seiner jüdischen Lohnmoral" mehr als suspekt, ihr Obmann Reinhold Krause wetterte gegen "die Seelenverjudung". Die "Bekennende Kirche", ebenfalls eine evangelische Gruppierung, stand den Nazis hingegen äußerst kritisch gegenüber, sie konnte sich aber nicht ansatzweise behaupten. Einer ihrer führenden Köpfe, Dietrich Bonhoeffer, betätigte sich im Widerstand und wurde hingerichtet. Die späten judenfeindlichen Schriften des Reformators waren für ihn unsäglich, dennoch verstand er sich als lutherischen Theologen.

Als Vorbild in Fleiß und Heldenmut hatte Luthers Porträt im 19. Jahrhundert Tabakdosen und Kaffeeservices geschmückt. Das Wilhelminische Kaiserreich begründete mit ihm als "geschichtspolitischer Leitikone" den politischen Führungsanspruch der deutschen Kulturnation, schreibt der evangelische Kirchenhistoriker und Reformationsexperte Thomas Kaufmann in dem ebenso klug konzipierten wie wuchtigen Katalog. "Diese Rezeptionsspur mündet ins ,Dritte Reich'." Mit dem kriselnden Deutschtum bröckelten auch die Luther-Denkmäler, je länger der Erste Weltkrieg dauerte. Das 400. Reformationsjubiläum anno 1917 war vom Krieg geprägt, Luther lieferte den protestantischen Soldaten lediglich Motivationsnachschub, als Zitate des Religionshelden kramte man Standfestigkeitsbelege und patriotische Appelle aus dem Fundus: "Ein feste Burg ist unser Gott" und "Für meine Deutschen bin ich geboren, ihnen will ich dienen".

Katholische Frontkämpfer, die mit Rosenkranz und Heiligenbildern das Artilleriefeuer in den Schützengräben zu überleben hofften, hat diese Luther-Rezeption eher irritiert. Es lag eine tiefe, heute kaum noch vorstellbare Kluft zwischen den Konfessionen. Hatte nicht Papst Pius X. wenige Jahre zuvor alle Reformatoren als "Feinde des Kreuzes Christi" bezeichnet? Die katholischen Vorbehalte gegen Luther zeigten sich im Jahr 1927, als mit Eugen Klöpfer in der Titelrolle der erste Lutherfilm gedreht war - und nach der Uraufführung zensiert wurde. Katholische Kleriker hatten sich beschwert. Wenige Jahrzehnte später reformierte sich der Katholizismus beim Zweiten Vatikanum selbst und machte seinen Frieden mit Luther.

Die DDR verachtete erst den Verräter der Bauern - und stellte dann Luther-Devotionalien her

Die Deutschen hatten im Osten wie im Westen ihre Probleme mit Luther und der noch allzu frischen Nazi-Vergangenheit. In der DDR kam erschwerend hinzu, dass Martin Luther in den 1520er-Jahren gegen die Bauernaufstände agitiert hatte. Wie anders soll man einem solchen Verräter am Plebejertum begegnen als mit Abscheu? Hatte nicht Friedrich Engels Luther zum feigen Fürstenknechten und Thomas Müntzer zum idolhaften Revolutionär erklärt? Viele Lutherstätten in Ostdeutschland wären abgerissen worden, wenn nicht die Sowjets sie unter ihren Schutz gestellt hätten. Die Dalheimer Ausstellung zeigt eine Schutztafel mit dem Hinweis "steht unter dem Schutz des Kommandanten", die am Wittenberger Luthermuseum angebracht war.

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands brauchte von ihren Besatzern Nachhilfe im Geschichtsklittern. Vergessen wir, was war - nur so ließ sich der im Vergleich zu Müntzer weitaus prominentere Luther für die eigene Ideologie nutzbar machen. Über eine Schamfrist von etwa zwanzig Jahren hinweg wurde über Luther dezent geschwiegen. Das Jahr 1967 bot den wunderbaren Anlass, 450 Jahre Reformation und 50 Jahre Oktoberrevolution gemeinsam zu begehen und den Sozialismus mit dem Reformator zu versöhnen. Auf einmal produzierte die DDR Luther-Devotionalien und verlieh Luther-Preise.

Spricht man heute noch mit Ehrfurcht von Luther? Kaum, allenfalls mit Respekt. Und immer öfter auch mit Humor. Luther wird als Disney-Ente karikiert und als Playmobilfigur zum Spielzeug. Sein Konterfei ziert Keksdosen und Bonbontüten und sein Zitatkracher von Worms 1521, "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders", ist auf Baumwoll-Polyamid-Socken verewigt - jede Zeit hat ihre Medien. Sehr witzig. Der Reformator ist zum Maskottchen geworden, was man als eigenwillige Interpretation der historischen Figur betrachten kann. Nach den Fakten ist vor den Fakten.

Luther 1917 bis heute. Kloster Dalheim, Lichtenau. Bis 12. November 2017. Katalog (Ardey-Verlag, 448 Seiten) 34,90 Euro.

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SZ vom 21.12.2016
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