Süddeutsche Zeitung

Ausstellung:Deutsche Trinklieder und Afrorock

Die eigene Geschichte lag unter Schichten von Staub: Die Ausstellung "Stolen Moments" in Bayreuth zeigt die Popkultur der schwarzen Townships Namibias.

Von Jonathan Fischer

Es hatte als Forschungsprojekt begonnen. Und endete in der Organisation der größten Ü40-Party, die Namibia je gesehen hatte, einem Auflauf von Hunderten von Senioren, die kostenlos per Bus herangekarrt worden waren und nun noch einmal begeistert die Tänze ihrer Jugend tanzten, den Boymasaka, Langarm oder Froggy Froggy mit teils Breakdance-ähnlichen Einlagen gaben, und das - die Gemeindehalle war überfüllt - auch auf den Parkplätzen und Zufahrtsstraßen. Ein Filmteam um den deutschen Dokumentarfilmer Thorsten Schütte schnitt alles mit. "Irgendwann werden diese Tänze für immer verloren sein", sagt Schütte, "irgendwann wird niemand mehr die Schlager der Eltern und Großeltern kennen".

Um daran zu erinnern, dass Namibias Pop-Geschichte nicht erst mit der späten Unabhängigkeit von Südafrika im Jahre 1990 anfing, sondern dass es großartige Sängerinnen und Songs gab, die den Menschen die Kraft gaben, schon unter dem Apartheid-Regime durchzuhalten, ist er zusammen mit zwei namibischen Kollegen monatelang durch das Land gereist, um alten Menschen noch einmal die Musik ihrer Jugend vorzuspielen. Es sollte um Sänger, Liedtexte und Auftrittsorte gehen, doch dann kam noch viel mehr in Bewegung. "Sobald wir das Aufnahmegerät laufen ließen", erklärt Schütte, "wollten unsere Interview-Partner, die dazugehörigen Tänze vorführen. Sie hatten noch all die Schritte und eleganten Drehungen drauf. Es war ein Riesenspaß."

"Irgendwann werden diese Tänze für immer verloren sein."

Der zweistündige Mitschnitt, der die Tänze der betagten Südwestafrikaner auf Großleinwand zeigt, ist Teil der beeindruckenden Ausstellung "Stolen Moments". Sie gibt einen Überblick über vier Jahrzehnte namibische Popgeschichte. Bis März ist die von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Multimedia-Show noch im Iwalewa-Haus der Universität Bayreuth zu besichtigen, dann zieht sie weiter nach Basel und Berlin.

Die Ausstellung kommt genau zur richtigen Zeit: Deutschland, das bis zum Juli 1915 als Kolonialmacht auftrat und dessen Truppen zwischen 1904 und 1908 über 75 000 Mitglieder der Volksgruppen der Herero und Nama ermordeten, will sich in den nächsten Monaten bei Namibia offiziell für den Völkermord im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika entschuldigen. Dass das Deutsche später - und auf weit friedlichere Weise - die populäre Kultur des Landes beeinflusste, auch das zeigt "Stolen Moments". Besonders das digitale Musikarchiv hat es in sich: Es enthält nicht nur Cover deutschsprachiger Schlager wie "Trink Brüderchen Trink", die schwarze Hotelbands einst für die Nachfahren der Kolonialherren intonierten, sondern auch Beatles-Songs in Pseudo-Englisch oder Kampfsongs der schwarzen SWAPO Guerilla. Oft spielten all das übrigens dieselben Musiker! Dazu haben namibische Künstler eigens für "Stolen Moments" Plattencover für Alben gestaltet, die es so nie gab. Meist waren nämlich Tonbandaufnahmen und alte Kassetten des namibischen Rundfunks die einzige Quelle.

Ein Zufallsfund stand am Anfang. Schütte war bei den Recherchen zu einem seiner Dokumentarfilme auf das Tonarchiv des nationalen Radiosenders in Windhoek gestoßen. Namibische Popmusik aus der Zeit der Apartheid. Doch während die größten Hits der Fünfziger bis Achtziger hierzulande jede Menge Motto-Parties befeuern, waren sie in Namibia völlig vergessen. Niemand konnte oder wollte sich so genau erinnern. Ist es aber nicht wenigstens die Pflicht jüngerer Generationen, für das kollektive Gedächtnis die Vergangenheit zu bewahren? Schütte fand zwei namibische Mitstreiter: Baby Doeseb, Jahrgang 1958, Musiker und Toningenieur für die Namibian Broadcasting Corporation, sowie die Kommunikationswissenschaftlerin Aino Moongo. Moongo, deren Eltern im Widerstand gearbeitet hatten, war 1974 auf der Flucht nach Angola zur Welt gekommen, und nach fünf Jahren in Flüchtlingscamps mit der Mutter nach Schweden ausgewandert. Als Mitarbeiterin der schwedischen Botschaft kehrte sie später in ihre alte Heimat Namibia zurück, und organisierte unter anderem das erste namibische Filmfestival. Die Recherchen zu "Stolen Moments" sieht sie als eine Art kollektive Therapie: "Wir kannten bisher nur die Musik der Besatzer. Oder die angestaubten Protest- und Politsongs der SWAPO, die heute die Regierung stellt. Wir wussten nicht, dass wir darüber hinaus noch eine eigene Geschichte hatten."

Die eigene Geschichte lag unter manchen Schichten Staub. Schütte, Doeseb und Moongo digitalisierten Tausende Magnet-Tonbänder aus den Musikarchiv des namibischen Rundfunks, die offensichtlich seit Jahrzehnten nicht mehr angerührt worden waren. Was sie fanden, begeisterte sie: heimische Folklore, Funk- und Rock-Fusionen, Songs, die einst in den Townships, den Shebeens, den Juke Joints und Ballsälen gespielt wurden. Etwa der schrille, chorale Jazz der Outjo Singers. Oder die Tswana-Balladen des Sängers und Songwriters Ben Mulazi, Musik die einst in den Dancehalls gespielt worden war. Warum nicht durch den Filter dieser Musik ein Generationen-Porträt versuchen? Spiegelte nicht gerade die Popkultur den Zustand einer ganzen Gesellschaft - mit all ihren Wirrungen? "Wir waren eigentlich eine SWAPO-Band", sagt Baby Doeseb, und meint seine Band The Ugly Creatures, die mit ihrem Afro-Rock in den Siebzigerjahren in Namibia Popstar waren. "Aber dann wurden wir oft auch von Afrikaans sprechenden Weißen gebucht. Sie ließen uns in Hotels auftreten und gaben uns im Voraus ihre Lieblingsplatten, damit wir ihre Musik lernen konnten".

Sechs Jahre dauerten die Recherchen des "Stolen Moments"-Teams. Kaum einer der alten Musiker war noch im Geschäft, viele bereits gestorben. Andere hatten als Busfahrer, Lehrer oder Näherin überlebt.

Für nicht wenige wichtige Fragen des Projekts, waren sie die Letzten, die man fragen konnte: Von was handelten die Liedtexte? Wie lebten die Musiker? Wie gingen sie mit den Zwängen der Apartheid-Politik um? Welche Märkte und Möglichkeiten gab es für sie? Und was bedeutete Musik in einem von Zensur beherrschten Gesellschaftssystem?

"Sie gaben uns im Voraus ihre Lieblingsplatten, damit wir ihre Musik lernen konnten."

"Die Musik schenkte uns einen Rückzugsort", sagt Baby Doeseb, "sie war oft der einzige Raum, in dem wir uns frei bewegen konnten". Unter dem Apartheid-Regime habe es allerdings kaum Aufnahme-Möglichkeiten gegeben. Studios, Plattendeals und Vertriebe waren extrem rar. Wenn es sie gab, dann veröffentlichten sie nur harmlos Kirchenmusik. So blieben Live-Auftritte oft die einzige Möglichkeit, Popmusik in einer der heimischen Sprachen wie Damara Nama, Oshivambo oder Otijiherero zu hören. Gestohlene Momente eben. Momente der Selbstbehauptung.

"Einmal", erinnert sich Doeseb an einen Gig in den frühen Achtzigerjahren, "spielten wir für eine offizielle Versammlung der SWAPO im Norden Namibias. Auf dem Rückweg hielten uns Sicherheitskräfte des Regimes an. Sie schlugen uns nicht nur mit ihren Gummiknüppeln zusammen, sondern zerstörten auch alle unsere Instrumente." Überall gab es damals Straßensperren. Die Autos wurden nach geschmuggelten Waffen durchsucht. Und schwarze Musiker standen natürlich unter Generalverdacht.

Wenn sie Glück hatten, sagt Doeseb, waren die Polizisten Fans der Ugly Creatures: "Dann mussten wir lediglich unsere Songs auf dem Revier spielen, bevor sie uns wieder laufen ließen."

Schütte, Doeseb und Moongo reisten durch ganz Namibia, um solche Zeitzeugen-Geschichten aufzuzeichnen. Und um die einstigen Dancehalls zu fotografieren. Die Ausstellung zeigt, was von ihnen geblieben ist: Tankstellen, Shebeens, Kirchen und Ruinen.

Per Zeitungsartikel, Facebook und Internet wandte das Recherche-Team sich an die Öffentlichkeit. Sie wollten erfahren, wer noch wisse, welche Namen, Kleider, Orte zu einem Foto oder einem Musikstück gehörten? Nun lebt die Ausstellung von einer kollektiven Erinnerungsleistung, die die Besucher über je ein kleines Radiogerät auf vier Kurzwellensendern abrufen können. An den Wänden sieht man dazu ein Mashup aus Lokalzeitungs-Meldungen über Politik, Werbung und Trivia. Besser kann man Pop-Geschichte nicht präsentieren. Und wer hätte gedacht, dass einige der lokalen Stars, Jahrzehnte nach ihrer Karriere, endlich auf Platte gepresst werden würden? Das renommierte deutsche Reissue-Label Bear Records wird die Archivfunde von "Stolen Moments" in einer ganzen Serie herausgeben. "Es ist großartig, wenn die Menschen wieder zu dieser Musik tanzen können", sagt Moongo, "ein Land, das seine Vergangenheit nicht kennt, kann als Nation nicht wachsen".

Stolen Moments. Iwalewahaus, Bayreuth. Bis 30. April 2017.

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Quelle:
SZ vom 19.12.2016
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