Ausstellung:Der Priester mit dem Pinselzepter

Das Fridericianum in Kassel zeigt die Abstraktionen des US-Malers Forrest Bess. Eine Entdeckung.

Von Till Briegleb

Manche Künstlerinnen und Künstler gehen sehr weit, um eins zu werden mit ihrem Werk. Sie lassen sich umoperieren wie Orlan oder Genesis P. Orridge, als Glockenschlegel hängend an Metallplatten schmettern wie Flatz oder bewegungslos zehn Stunden in einen großen Stein einschließen wie Timm Ulrichs. Aber der Versuch von Forrest Bess, sich selbst ohne Betäubung in einen Hermaphroditen umzuschneiden, ist auch in diesem Grenzgebiet der Kunst extrem. Der texanische Maler, Fischer und Empfänger spiritueller Harmoniebotschaften überlebte seine Amateur-Chirurgie am eigenen Leib beinahe nicht, landete später in der Psychiatrie und starb 1977 relativ vergessen und arm, obwohl er immer wieder Ausstellungen in Galerien und Museen erhielt - deren Verkäufe aber nie seinen kärglichen Lebensunterhalt als Einmannbetrieb für Angelköder ablösen konnten.

Wie Hilma af Klint verbildlicht auch Forrest Bess Erscheinungen aus einer geheimen Geisterwelt

Wenn jetzt Moritz Wesseler im Fridericianum Kassel dem in Europa kaum bekannten Künstler die erste große Retrospektive seit 1989 ausrichtet, dann ist das als Entdeckung dem Eintritt der Bildmystikerin Hilma af Klint in die Kunstgeschichte zu vergleichen, die ebenfalls in den Achtzigern wiederentdeckt wurde, aber erst in den letzten Jahren zu richtig großen Würdigungen kam. Dieser Vergleich ist auch deswegen sehr naheliegend, weil Forrest Bess wie das vor rund 100 Jahren malende Kunstmedium aus Schweden Erscheinungen aus einer Geisterwelt verbildlichte, die sie beide als mehr oder weniger konkrete Botschaften für eine Welt der ausgleichenden Kräfte verstanden. Hilma af Klint in sehr großformatigen Gemälden, der texanische Fischer in sehr kleinen Größen.

In Rahmen aus Treibholz malte der 1911 geborene Bess in einer ärmlichen Hütte am Golf von Mexiko seine Prophezeiungen aus dem Traumland zwischen Schlafen und Wachen. Seit der Kindheit hatte Bess "Visionen" am Ende der Nacht, die er nach traumatischen Erlebnissen in der Armee, wo er wegen seiner Homosexualität brutal verprügelt wurde, Mitte der Vierzigerjahre zunächst als therapeutische Maßnahmen zu malen begann. Es sind Abstraktionen mit wenigen Elementen und Symbolen, starken Farben und Kontrasten, die sich in hunderten Erscheinungen zu einer eigenen Bildsprache entwickeln. Diese stark zeichenhaften Kompositionen entwickeln sich auf der Grenze zwischen gegenständlich und abstrakt, also in einem Gebiet, in dem auch die meisten Alphabete und Buchstaben ihren Ursprung haben.

Ausstellung: Botschaften, die Forrest Bess empfangen und in Ursymbole übersetzt hat.: " Untitled (The Spider)" (1970).

Botschaften, die Forrest Bess empfangen und in Ursymbole übersetzt hat.: " Untitled (The Spider)" (1970).

(Foto: The artist/Modern Art, London/R. Glowacki)

Und tatsächlich sah Forrest Bess in seinen Bildern eine konkrete Sprache am Werk. Stark beeinflusst von den Theorien C. G. Jungs über das kollektive Unbewusste meinte Bess in seinen Visionen Ursymbole aufscheinen zu sehen, die konkrete Nachrichten über Glück und Unsterblichkeit transportieren. "Das Unbewusste ist die große Mutter aller bedeutenden Symbole und Archetypen, die uns vorwärts bringen zu Wahrheit und Schönheit", schrieb Bess an seine New Yorker Galeristin Betty Parsons, und formulierte an anderer Stelle: "Das Zentrum der Kreativität liegt in dem urogenitalen Bereich des Menschen."

Die auf wenige Elemente beschränkten Gemälde bestechen durch pulsierende Rätselhaftigkeit

Bess begann nach diesen Einsichten, in der Welt der Kulturen nach Hinweisen einer universellen Wahrheit zu forschen, die seine sexuelle Unerlöstheit mit ewiger Jugend heilen würde. Er sah Verbindungen zwischen der operativen Methode des österreichischen Psychologen Eugen Steinach, der mit einer Unterbrechung des Samenleiters eine "Verjüngung" des Mannes erreichen wollte (und das an so berühmten Patienten wie Sigmund Freud und William Butler Yeats auch unternahm) zu der rituellen Penisspaltungen bei den Aborigines und den griechischen Mythen des Hermaphroditen, wie sie schon in der Antike Ovid und Platon überliefert haben. So schuf Bess sich eine private Weltdeutung, nach der die Gender-Alchemie von weiblich und männlich zum ewigen, erleuchteten Selbst führe.

Bess war überzeugt, dass wenn er genug Belege für seine Theorie hätte, "und wir das der Presse geben, Sputnik dagegen wie ein Kinderspielzeug erscheint". Und in diesem fantastischen Selbstvertrauen, Träger einer überirdischen Weisheit zu sein, die es nur richtig zu lesen gelte, malte Forrest Bess seine intensiven Nachrichten in unglaublich vielfältiger Form als eine Art Buch des ewigen Lebens - das aber leider nur er lesen und verstehen konnte, und das vermutlich falsch, wenn man sein trauriges Ende als schnell alternder Depressiver im Heim betrachtet.

Ausstellung: Der Maler war stark von C. G. Jungs Schriften über das kollektive Unbewusste beeinflusst, hier "Untitled (No. 5)" (1949).

Der Maler war stark von C. G. Jungs Schriften über das kollektive Unbewusste beeinflusst, hier "Untitled (No. 5)" (1949).

(Foto: The artist/Modern Art, London/R. Glowacki)

Obwohl Forrest Bess auch mal Erläuterungen seiner Formensymbolik gab, die stark sexualisierte Bezüge formulierten, sind seine Bilder eben keine farbliche Übersetzungen eines Eros-Alphabets. Die auf wenige Elemente beschränkten Gemälde bestechen vielmehr durch ihre pulsierende Rätselhaftigkeit. Zitate aus der indianischen Kunst und Mythologie verbinden sich mit romantischen Landschaftsabstraktionen, serielle Zeichenfolgen mit Anleihen bei der Höhlenmalerei der Steinzeit, das Einhorn mit Yin und Yang. Und trotzdem ist jede einzelne dieser reduzierten Urbotschaften ein Faszinosum, eine magische Botschaft von vielleicht universellerem Ausdruck, als Forrest Bess es selbst verstand.

Denn was seine manische Beschäftigung mit der verschlüsselten Mystik der Menschheit ergibt, ist eben nicht eine klar zu fassende Botschaft, die sich der Maler dahinter ersehnte, sondern der Sog des Unergründlichen. Für diesen war Forrest Bess dann tatsächlich ein asketischer Hohepriester mit Pinselzepter, der in seinen Abstraktionen Bildstoff für zehn Künstlerkarrieren auf das Treibholz malte. Und wenn er schrieb "My paintings are tomorrow's paintings" und überzeugt war, "visionäre Kunst wird eine große Schule der Zukunft werden", dann ist mit dieser Ausstellung ein starkes Angebot geschaffen, Forrest Bess als Quelle dafür zu nutzen.

Ausstellung: Zitate aus der indianischen Kunst und Mythologie verbinden sich mit romantischen Landschaftsabstraktionen - "Untitled (No. 7)" (1957).

Zitate aus der indianischen Kunst und Mythologie verbinden sich mit romantischen Landschaftsabstraktionen - "Untitled (No. 7)" (1957).

(Foto: The artist/Modern Art, London/R. Glowacki)

Forrest Bess. Fridericianum, Kassel. Bis 6. September.

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