Ausstellung "Der nackte Mann" in Linz:Vom Idealbild zur Witzfigur

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Auch beim Anblick jeder Menge splitternackter Männer und von allerlei Penissen verhält sich der Kulturbürger im Museum verpackt und dezent wie eh und je. Immerhin lernt er bei der Ausstellung "Der nackte Mann" in Linz, dass der Mann ohne Kleider beides ist: eine kulturbildende Kraft und eine Witzfigur.

Johan Schloemann

Ausstellung "Der nackte Mann" in Linz: Seit dem 20. Jahrhundert, der Zeit der Liberalisierung und der offeneren Homosexualität, wird der schöne Männerkörper wieder heroisch bis ironisch gefeiert.
Celebrity Gleam, David LaChapelle, 2002, Galerie Thomas, München

Seit dem 20. Jahrhundert, der Zeit der Liberalisierung und der offeneren Homosexualität, wird der schöne Männerkörper wieder heroisch bis ironisch gefeiert.

Celebrity Gleam, David LaChapelle, 2002, Galerie Thomas, München

(Foto: Krause, Johansen)

Ach, was für ein wunderbarer Panzer ist doch unsere hochgezüchtete Kultur! Da hängt man jede Menge splitternackte Männer in ein Museum, allerlei Penisse in verschiedenen Ausfertigungen sind zu sehen - und dann laufen sehr angezogene Museumsbesucher sehr brav da durch, sie setzen ihren interessierten Kulturblick auf, und sie kichern allenfalls einmal ein bisschen in sich hinein.

Keiner geht dem spontanen Impuls nach, seine Kleider abzustreifen, so wie es einst Sigmund Freud als modernen Erwachsenentraum beobachtete - und als lustvolles Verhalten kleiner Kinder. Im Bild ist heute alles Mögliche erlaubt. Das bekommt man in der Kunst und im Internet freier und radikaler denn je vorgeführt.

Aber der Kulturbürger im Museum verhält sich vor 340 nackten Kunstwerken verpackt und dezent wie eh und je seit der Entdeckung der Scham. Auf der Betrachterseite kein "Nacki-Po!" weit und breit - um eine Bezeichnung zu zitieren, die ein kleines Mädchen aus der Bekanntschaft mit lauter Verzückung für den körperlichen Naturzustand zu verwenden pflegt.

Drei feministische Kuratorinnen haben die Bilder für die Ausstellung ausgesucht und wollen die Besucher des Lentos Kunstmuseums im österreichischen Linz unterrichten über "die Dekonstruktion des hegemonialen Männlichkeitsmodells, alternative Männlichkeitskonzepte, den Blick des Begehrens auf den männlichen Körper sowie Körperkult und Instrumentalisierung".

Parallel zur Eröffnung findet eine Etage tiefer in dem Museum an der Donau ein kulturwissenschaftliches Symposion statt. Und während man dort lernt, dass das Unbehagen angesichts von Nacktheit und Geschlecht durch die scheinbare moderne Befreiung nicht aufgehoben sei; während dort über Zwänge der "Heteronormativität", über "soziales Geschlecht" und die "frustrierte Moderne" nachgedacht und Baudelaires "Blumen des Bösen" zitiert werden, wo es in der Übertragung von Stefan George heißt: "O düsteres Bild das alle schrecknis vereint! / O formlosigkeit die nach ihren kleidern weint!" - während also die Fachleute diverse Genderkämpfe, ideengeschichtliche Verwirrungen, Epochenbrüche und heikle Ambivalenzen besprechen, zeigen sich die Besucher der Ausstellung routiniert ungeschockt, oder sie verdrängen ihre Erschütterung erfolgreich unter dem bewährten Kulturpanzer. Und schreiten anschließend zu Melange und Strudel ins gläserne Museumscafé.

Die Gelassenheit ist aber natürlich nicht selbstverständlich. Zwar gibt es auch in Linz den Effekt, dass viel Bloßheit auf einmal entsexualisierend wirkt - man kennt diesen Effekt von den nackten Massen der Künstler Spencer Tunick und Vanessa Beecroft oder auch aus der Saunalandschaft. Aber wir sind hier immer noch in Österreich. Das heißt, es gibt eine besondere Dialektik von befreiungswilliger Provokation und bürgerlicher Skandalisierung, bis heute.

Das Leopold Museum in Wien, das gerade ebenfalls "Nackte Männer" in der Kunst präsentiert - in einem stärker kulturgeschichtlich-didaktischen Parcours als in Linz - musste erst kürzlich die Genitalien auf dem Ausstellungsplakat überkleben lassen, weil es in Wien die eingeübte sittliche Aufregung darüber gegeben hatte.

Österreich ist aber auch deshalb ein passender Ort für dieses Thema, weil dort um die vorletzte Jahrhundertwende in der Tat neue Blicke auf den nackten Mann ausprobiert wurden: in den zum Teil quälenden Sezierungen der männlichen Körper-Identität bei Egon Schiele, Gustav Klimt oder Oskar Kokoschka - und weil nach dem Zweiten Weltkrieg der orgiastische bis masochistische Männerkörper des Wiener Aktionismus diese Traditionslinie aufnahm.

Brüchigkeit heroischer Körperideale schon lange evident

Und so ist es auch die Ausgangsthese der Linzer Ausstellung zum nackten Mann im 20. und 21. Jahrhundert, es habe sich um 1900 etwas geändert, während vorher der nackte Männerkörper nur entweder als religiöse Leidensfigur (Heilige und gekreuzigter Christus) oder als heroisches, antikes Ideal aufgetaucht sei.

Diese These stimmt insofern nicht, als es in der abendländischen Bildtradition durchaus auch schon den verletzlichen, den begehrten oder den hinfälligen Männerkörper gegeben hatte - man denke an den Typus des geschundenen Marsyas, an den zarten, geliebten Jüngling Antinous sowie an den geriatrischen Fall wie im Typus "Sterbender Seneca", bei dem trotz aller Muskulösität die Sterblichkeit des Mannes betont wurde, aufgegriffen dann von Peter Paul Rubens, so wie überhaupt besonders in der Kunst des Manierismus und Barock viel über die Brüchigkeit heroischer Körperideale reflektiert worden war.

Immer wieder bezieht sich auch die Kunst des 20. Jahrhunderts auf solche Typen, sei es nun der heilige Sebastian, seien es die sizilianischen Knabenträume des Fotografen Wilhelm von Gloeden, sei es ein schmächtiger Mann bei Giacometti oder ein massiger bei Alfred Hrdlicka.

Was aber gleichwohl zutrifft an der Sortierung in Linz, das ist, dass sich in der Moderne vor allem seit dem Fin de siècle eine Verunsicherung des modernen Männerbildes vollzogen hat. Damals kamen Psychoanalyse, Sexualwissenschaft und allerlei bürgerliche Selbstzweifel auf. In der akademisch-klassizistischen Kunst, die gegenüber der Kunst des 18. Jahrhunderts zunehmend vertaubte und erstarrte, war der nackte Männerkörper noch eine ästhetische Norm gewesen: Es wirkten der Kanon des Polyklet und die in der Renaissance erneuerte Schule der Wohlproportioniertheit.

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