Süddeutsche Zeitung

Ausstellung "Der kalte Blick" in Berlin:Vorurteil, Wissenschaft, Mord

Zwei ehrgeizige Wissenschaftlerinnen untersuchten 1942 jüdische Familien im Ghetto von Tarnów, degradierten sie zu Objekten. Eine hervorragende Ausstellung in Berlin dokumentiert das Leben der Opfer und das Vorgehen der Täter.

Von Jens Bisky

Vom 23. März bis zum 4. April 1942 arbeiteten zwei Wiener Anthropologinnen in Tarnów, achtzig Kilometer östlich von Krakau gelegen, an einem Projekt zur "Erforschung typischer Ostjuden". Der auf Anordnung der deutschen Besatzer zwangsweise gebildete Judenrat hatte ihnen 106 Familien mit mindesten zwei Kindern, die älter als vier Jahre alt sein sollten, benennen müssen. Der Sicherheitsdienst der SS befahl 565 Männer, Frauen, Kinder zum Ort der Untersuchung. Die Wissenschaftlerinnen trugen dort biografische Daten zusammen, vermaßen die Körper der ihnen Zugeführten, bestimmten Haar-, Haut- und Augenfarbe. Nacktfotos wurden angefertigt sowie von jedem und jeder Untersuchten vier anthropometrische Aufnahmen: von vorn, in der Drittelansicht, im Profil und frontal, den Kopf in den Nacken gelegt.

Zu Beginn des Jahres 1942 lebten in Tarnów etwa 30 000 Juden in einem noch halb offenen Ghetto. Die Besatzer hatten Familien aus Krakau und Umgebung in die Stadt umgesiedelt, die, jiddisch Tarne genannt, ein Zentrum jüdischen Lebens in Westgalizien gewesen war. Am 9. November 1939 zündeten Deutsche in Tarnów die Synagogen, Bethäuser und das Verwaltungsgebäude der jüdischen Gemeinde an. Im Juni 1942 begann der Massenmord. Tausende Menschen wurden auf dem Marktplatz zusammengetrieben, SS und Polizei erschlugen und erschossen einige gleich. Tausende wurden ins Vernichtungslager Belzec deportiert und dort mit Motorabgasen ermordet, Tausende auf dem Jüdischen Friedhof von Tarnów und in einem nahe gelegenen Wald erschossen.

Die Wissenschaftlerinen werteten unterdessen ihre Forschungsergebnisse aus. Im Herbst 1942 schrieb Dr. Elfriede Fliethmann vom Institut für Deutsche Ostarbeit an ihre Kollegin Dr. Dora Maria Kahlich vom Anthropologischen Institut der Universität Wien: "Von den Tarnówern sind im Ganzen noch 8000 da, aber wie mir Bernhardt (gemeint: der Chef des Sicherheitsdienstes Willi Bernhard) sagte, von unseren fast niemand mehr. Unser Material hat also heute schon Seltenheitswert."

Den "rassenkundlich" vermessenen Körpern ließen sich nach jahrelanger Recherche Namen zuordnen

Wo sich im Dritten Reich die Zentralen der Geheimen Staatspolizei, der SS und des Reichssicherheitshauptamts befanden, im Berliner Dokumentationszentrum Topographie des Terrors, erhellt seit dieser Woche die Ausstellung "Der kalte Blick" die Geschichte der ehrgeizigen Wissenschaftlerinnen. Sie ist aus drei Gründen eine der besten zeithistorischen Ausstellungen der letzten Jahre. Sie ist bewundernswert gründlich recherchiert. Ausgehend vom Vermessungsprojekt dokumentiert sie die "Verwissenschaftlichung von Vorurteilen" und erzählt darüber hinaus detailliert vom jüdischen Tarnów und seiner Vernichtung, von den Lebensläufen der Opfer wie der Täter. Dabei ist die richtige Form gefunden, die Fotos, die unter Zwang und in demütigender Weise entstanden, angemessen zu präsentieren. Wo immer möglich, werden zivile Aufnahmen der Familien gezeigt. Die anthropometrischen Bilder sind in der Mitte der Ausstellung an Stellwänden zu sehen, zwischen denen die Besucher nicht durchgehen können. Sie werden auf Distanz gehalten.

Die Ausstellung ist in Kooperation der Topographie des Terrors, der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und des Naturhistorischen Museums Wien entstanden, Margit Berner, Götz Aly, Ulrich Baumann und Stephanie Bohra haben sie erarbeitet, und sie hat selber eine jahrzehntelange Geschichte.

Susanne Heim und Götz Aly haben 1991 in ihrem Buch "Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung" über die "rassekundliche" Untersuchung der jüdischen Familien in Tarnów geschrieben und aus dem Briefwechsel der Anthropologinnen Fliethmann und Kahlich zitiert, den sie im Archiv der Jagiellonischen Universität Krakau gefunden hatten. Aly schreibt im Katalog, "die damals in Krakau und Wien tätigen Wissenschaftler" seien ungefähr so alt gewesen wie Susanne Heim und er. "In ihren Aufsätzen, Verhaltensweisen, Zitierkartellen und Danksagungen entdeckten wir zahlreiche Momente, die uns an den akademischen Betrieb der Gegenwart erinnerten." Die NS-Wissenschaftlerinnen suchten damals gesicherte Finanzierung, Privilegien und "eine möglichst konsequente Umsetzung ihrer theoretischen Ergebnisse in die gesellschaftliche Praxis". Krieg und NS-Herrschaft ermöglichten es ihnen, "alle tradierten ethischen Bedenken über Bord" zu werfen.

Nach einem Vortrag, den Götz Aly 1999 in Wien hielt, sprach ihn Margit Berner an, die im Naturhistorischen Museum in Wien die anthropometrischen Fotos aus dem Jahr 1942 gefunden hatte, nummerierte Bilder ohne die Namen der Opfer. Über Jahre suchte Margit Berner nach weiteren Unterlagen und entdeckte schließlich im Smithsonian in Washington den Namensschlüssel. 26 der Untersuchten überlebten. Margit Berner fand einige von ihnen oder ihre Nachfahren, führte Interviews und sammelte Lebenszeugnisse. Es gelang ihr, wie sie in ihrem eindrucksvollen Buch "Letzte Bilder" schreibt, "gegen die Absicht der Mörder (...) das Leben und Sterben von 565 jüdischen Männern, Frauen und Kindern zu dokumentieren".

"Danke für die Sendung", schrieb eine Nachkommin den Ausstellungsmachern. "Es lief mir kalt über den Rücken."

In der Berliner Ausstellung ist ein Foto vom 90. Geburtstag der 1929 geborenen Ita Kupfermann-Assif zu sehen. Deren Tochter schrieb Margit Berner im Januar dieses Jahres aus Israel: "Danke für die Sendung. Es lief mir kalt über den Rücken. Ja, das ist die Familie meiner Mutter, alle Namen stimmen. Wir besitzen über sie nicht viele Unterlagen, schon gar keine Fotos. (...). Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir die Materialien geschickt und erklärt haben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie überwältigend es ist, meine Großeltern, meine Tante und meine Onkel zum ersten Mal zu sehen. Für uns ist jede Information wertvoll! Bevor Sie auftauchten, waren mein Großvater und meine Großmutter, mein Onkel und meine Tante nur Namen - ich wusste nichts über meine Vorfahren! Das Schlimmste ist schon passiert. Jetzt ist alles ein Geschenk."

1939 lebten in Tarnów etwa 25 000 Juden, als die Rote Armee im Januar 1945 die Stadt befreite, fand sie dort weniger als 250, die hatten untertauchen können. Die Ausstellung rekonstruiert auch Wege des Überlebens, zeigt ein Versteck in einer Mühle und ein Denkmal, das Überlebende 1946 auf dem Jüdischen Friedhof errichteten. Es wäre gut, wenn die Ausstellung "Der kalte Blick" im kommenden Jahr auch in Wien gezeigt werden würde und dann auch in Tarnów und in Worpswede bei Bremen. Dort, in seinem Geburtsort, lebte und wirkte Rudolf Dodenhoff nach 1945 bis zu seinem Tod 1992. Er war der Fotograf, der mit den beiden Wissenschaftlerinnen in Tarnów zusammengearbeitet und die meisten der Fotos gemacht hatte.

Der kalte Blick. Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnów. Topographie des Terrors, Berlin, bis zum 11. April 2021. Der Katalog kostet 18 Euro. Margit Berners Studie "Letzte Bilder. Die ,rassenkundliche' Untersuchung jüdischer Familien im Ghetto Tarnów 1942" kostet 22 Euro.

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Quelle:
SZ vom 23.10.2020
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