Süddeutsche Zeitung

Ausstellung:Bewegte Bücher

Das Literaturmuseum Marbach zeigt Eisenbahn-, Gefängnis- und Leihbüchereien.

Von Volker Breidecker

Die bestbestückten Gebrauchtbuchhandlungen und beliebtesten Leihbibliotheken sind an den Enden der Welt zu finden, weit unten im Süden auf der Avenida Corrientes im Zentrum von Buenos Aires, noch weiter unten in der Justizvollzugsanstalt Münster - der preisgekrönten "Bibliothek des Jahres 2007" -, oder auch weit hinten im Himalaja, in der Altstadt des einstigen Hippieparadieses von Kathmandu. Auch Bücher sind Migranten und haben die Beine von Flüchtlingen und Exilanten, von Aussteigern und Tramps, von Hobos und Vagabunden. Immerzu wollen sie gelesen und gebraucht, benutzt und zerlesen werden, von Händen, die neugierig nach ihnen greifen, vorzugsweise solchen, die sie nach Lektüre und Gebrauch wieder der Zirkulation zuführen, aus der sie auch gekommen sind.

Ein Wagnis für das Literaturmuseum der Moderne, einmal nicht die wertvollen Bestände des Archivs in verschlossenen Vitrinen zu präsentieren. Natürlich fehlen auch in dieser neuen Wechselausstellung die gläsernen Schneewittchensärge und Croupierstische nicht, denn zu sehen sind auch manche Rarissima und Paralipomena aus der tiefgekühlten Unterwelt der Marbacher Bestände: Aus dem Kreis der Spitzenreiter der hauseigenen Hitparade sind Bücher und Beigaben aus den Bibliotheken von W. G. Sebald, Peter Rühmkorf, Martin Heidegger, Paul Celan und Gottfried Benn zu sehen. Allein die Stefan George-Jünger mussten diesmal draußen bleiben, vermutlich deshalb, weil der Meister seine Jünger stets dazu angehalten hatte, ordentlich mit den Büchern umzugehen und allzu auffällige Spuren ihres Gebrauchs oder Missbrauchs zu unterlassen.

Zu sehen ist auch eine Auswahl von Büchern, die in Zügen der Deutschen Bahn liegen blieben

Spektakulär an dieser Ausstellung sind eine ganz Reihe gezeigter "Spezialsammlungen", die den Titel "Das bewegte Buch" nicht nur im metaphorischen Sinne, sondern auch handgreiflich und materialiter einlösen. Eigens angetreten ist als fromme Stiftung der ehemaligen Popliteraten Christian Kracht und Eckhard Nickel deren legendäre "Kathmandu Library". Von 2004 bis 2006 hatten beide von Kathmandu aus und als Dauergäste einer Pension ihr längst verblichenes Magazin Der Freund redaktionell betreut. Nur Bücher hatten sie zunächst keine, bis sie auf den Gedanken kamen, jeden neuen Tag damit zu beginnen, in einer der nahen Gebrauchtbuchhandlungen ein täglich neu auszuwählendes Büchlein zu erwerben.

Wie nicht anders zu erwarten, fanden sie dort, vorwiegend in Taschenbuchausgaben, so ziemlich alles, was Europa und Nordamerika an literarischem Bildungs-, Unterhaltungs- oder auch erbaulichem Schriftgut hervorgebracht und was dann Rucksacktouristen ausgesondert und ausgestoßen haben - aus Gründen von Unlust oder Verlust, zur Erleichterung des Gepäcks oder auch nur aus einem dringenden Bargeldbedarf. Wie anders sollte ein von Christopher Isherwood eigenhändig signiertes Buch in die Krabbelkiste kommen oder daraus für läppische 50 Cent zu erwerben gewesen sein? Anderes, wie zwei Bändchen Hofmannsthal aus der Frühzeit der Fischer Bücherei dürfte schon recht lange herumgelegen oder mehrfach den Besitzer gewechselt haben. Desgleichen mannigfache Werke Sigmund Freuds in Einzelausgaben, die an Zahl und Bedeutung nur von den Büchern Hermann Hesses und fernöstlicher Spiritualienliteratur überboten werden. Immerhin, Jane Kramers Essay über "Sonderbare Europäer" und Wilhelm Genazinos - der hohen Luftfeuchte und der Monsune wegen - "Ein Regenschirm für diesen Tag" sind auch mit dabei.

Ein heimlicher oder verschwiegener "IC"- oder "ICE Kathmandu" ist aber auch in deutschen Landen unterwegs: Aus der Fundbibliothek der Deutschen Bahn, mit amtlichem Stempel versehen und gesammelt vom Juli bis Oktober dieses Jahres, wurde dem Marbacher Archiv eine bunte Auswahl von versehentlich oder auch absichtlich in den Zügen liegen gelassenen Büchern übereignet: Der "Duden der Zitate" neben den "Shades of Grey", die Bibel neben dem Koran, und eine ganze Kiste von "Cindy"-Büchern für werdende Ballettschülerinnen.

Spektakulärer noch flankiert den Parcours ein gut sieben Meter langes Regal, voller - größtenteils ausgesonderter - Bücher aus der Gefangenenbibliothek der JVA Münster. Religiöses ist dabei, darunter Josef Ratzingers "Einführung in das Christentum" in der bereits 1968 erreichten 8. Auflage, laut Stempelvermerken aber erst in den Jahren der päpstlichen Amtszeit des Autors mehrfach entliehen. Politische Literatur ist dagegen hier kaum zu finden, abgesehen von einer sechsbändigen Lenin-Ausgabe, die aber offenbar kaum benutzt wurde. Anders sieht es mit Goethes und Schillers Werken aus. Gleich mehrere Seiten von Goethes "Gedichten" wurden räuberisch entwendet, und wenigstens ein Band Schiller musste dem strengen Gefängnisreglement halber aus der Sammlung ausgemustert werden, weil handschriftliche Anstreichungen und Marginalien auf mögliche heimliche Botschaften an Mitgefangene deuten könnten.

Wo Macht und Ohnmacht so nahe beieinander liegen wie in einem Gefängnis spiegelt sich dies auch in den vorzugsweise entliehenen Büchern: Viel Kriminalistisches in Theorie und Praxis ist dabei, manches, was dem Titel nach an Schuld wie Unschuld gemahnt oder vom "dressierten Mann" wie von seinem weiblichen Gegenstück handelt, Hans Rühmann liefert mit "Das war's" (wohl) den Insassen wenig Trost, deren einsamer Hit auf der Skala häufig entliehener Bücher noch immer "Der Pate" von Mario Puzo ist.

Mehrere Seiten von Goethes "Gedichten" wurden räuberisch entwendet

Nachdenklich neigt sich der Besucher über die großen runden Vitrinen mit Exponaten, die wie Naturlandschaften ausgebreitet sind, nach Formen, Spuren und Relikten des Gebrauchs. Auch darunter ist Gefangenenliteratur zu finden: Nicht nur ein Buch, das der Holocaustüberlebende H.G. Adler bei seiner Freilassung aus dem Konzentrationslager mitgenommen hatte, sondern auch eine mit präzisen Schnitten zum illegalen Transport eines Mobiltelefons ausgehöhlte Ausgabe von Michael Crichtons "Enthüllung". Aus Wut darüber, dass ein früherer Entleiher einen ganzen "Freud" aus dem Leim gerissen und entwendet hatte, verewigte sich ein anderer "Knacki" auf dem Einbanddeckel mit den Sätzen: "Danke dem kleinen Wixer, der die Seiten herausgerissen hat. Hast wohl Angst daß mal wer dahinter kommt was für 'nen armes Würstchen Du bist. Asoziales Spatzenhirn." Da ist der Umgang und Gebrauch unserer Dichter mit den Büchern ihrer nahen und fernen Kollegen durchaus feiner, subtiler, aber unter Umständen auch nicht weniger kannibalisch. Denn auch sie nähren eine einzige große Literaturschlange, die gefräßig wie nur eine Boa constrictor ist.

Zart hingegen Hölderlins Kassiber an Susette Gontard, der einem Exemplar des "Hyperion" an verborgener Stelle die Widmung mitgab: "Wem sonst / als / Dir."

"Das bewegte Buch". Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar, bis 9. Oktober 2016. Als Begleitbuch ist ein "Marbacher Magazin" erschienen und kostet 20 Euro.

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Quelle:
SZ vom 10.11.2015
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