Ausstellung:Baupläne der Fantasie

Oulipo&Co

Vitrine mit Büchern von Georges Perec. Die Gruppe um den französischen Schriftsteller ist unter dem Namen "Oulipo" bekannt.

(Foto: Escape Diaphanes)

In Berlin zeigt der Diaphanes Verlag eine kleine, feine Ausstellung über die Literatengruppe Oulipo.

Von Tobias Lehmkuhl

Neunzehnhundertachtzig. Zwei Männer sitzen in einem Pariser Café und tauschen Kriminalromane aus. Ein dritter Mann tritt hinzu, greift sich den Bücherstapel und wirft die einzelnen Bände nacheinander auf den Tisch: "Mist, Mist, Mist, ganz nett, Mist, Mist, Mist." Dann geht er weiter. "Weißt du, wer das war?", fragt der eine Mann den anderen, "Georges Perec."

Georges Perec ist damals in Frankreich, wie Harry Mathews in "Der Obstgarten", seinen Erinnerungen an den Schriftsteller schreibt, ein bekannter Mann. Er erstellt das beliebte Kreuzworträtsel des Nachrichtenmagazins Le Point, verfasst am laufenden Band Romane und Romanähnliches und tritt häufig im Fernsehen auf. Sogar Kellnerinnen in Grenoble erkennen ihn. Nach seinem Tod wird die französische Post ihm eine Briefmarke widmen.

Der junge Mann nun, dem erst gesagt werden muss, welche Berühmtheit seine Lektüre gerade einer recht eindeutigen Kritik unterzogen hat, heißt Jürgen Ritte. Eigentlich ist er in Paris, um eine Dissertation über Marcel Proust zu schreiben. Nach der Begegnung im Café aber fängt er an, Perec zu lesen, gibt sein Dissertationsprojekt umgehend auf und wird zu einem der wichtigsten Vermittler experimenteller französischer Literatur in Deutschland.

Ein Ingenieur erklärt seinen Mitgefangenen in Mittelbau-Dora berühmte Bilder des Louvre

Man kennt die Gruppe um Georges Perec auch hierzulande unter dem Namen "Oulipo". Gegründet wurde sie 1960 von Raymond Queneau und François Le Lionnais. In einer kleinen, feinen Ausstellung im Kreuzberger "Espace Diaphanes" wird ihrer jetzt gedacht - kuratiert von Jürgen Ritte, aus dessen Privatsammlung sich ein großer Teil der Ausstellung speist. Unter anderem drei Vitrinen voller Bücher, Zettel, Fotos von Perec, Mathews, Queneau, Oskar Pastior, Marcel Duchamp oder Italo Calvino. Auch eine gerahmte Installation von Hervé Le Tellier stammt aus Rittes Fundus: Zwanzig Fundstücke, die jede Großstadtgosse bereithält, ein Müll-Herbarium, in bester Lamackscher Ordnung inventarisiert. Darunter eine zerknitterte Plastikflasche, ein altes Feuerzeug, eine zerdrückte Zigarettenschachtel und sogar ein Radiergummi, versehen mit lateinischer Klassifikation: "Famille des: Instrumenta scriptoria, Vulgo: Stylo, Habitat: caniveaux, chaussées".

Jürgen Ritte erläuterte bei der Vernissage noch einmal das "french paradox": Gerade in der Beschränkung auf eine selbstgewählte Methode werden gänzlich neue poetische Potenziale freigesetzt. Berühmtestes Beispiel ist Georges Perecs Roman "La disparition", der ganz auf den Vokal "e" verzichtet. Unter dem Titel "Anton Voyls Fortgang" ist das Buch vor vier Jahren in der maßgeblichen Übersetzung von Eugen Helmlé bei Diaphanes wiederaufgelegt worden. Zuletzt kamen in der Perec-Ausgabe des Verlags das Opus magnum "Das Leben Gebrauchsanweisung" sowie, in der Übersetzung Jürgen Rittes, "Die dunkle Kammer. 124 Träume" hinzu.

Die von Ritte in den Neunzigerjahren etablierte Reihe "Oulipo & Co." setzt Diaphanes seit Kurzem fort. Neben den Erinnerungen von Harry Mathews an Perec stehen, ebenfalls von Mathews, eine kleine Feier der Onanie, "Die Lust an sich", außerdem die "Faits divers" von Félix Fénéon und die Erinnerungen des Oulipo-Mitbegründers François Le Lionnais, "Leonardo in Dora". Le Lionnais war als Kriegsgefangener ins Konzentrationslager Mittelbau-Dora geraten und musste dort an der Fertigung der V2-Raketen mitarbeiten. Er war jedoch nicht nur Ingenieur, er kannte auch den Louvre praktisch auswendig und vermochte es, Gemälde so detailgenau zu beschreiben, dass seine Mitgefangenen, die Jan van Eycks "Rolin-Madonna" oder Leonardos "Felsgrottenmadonna" nie selber gesehen hatten, bald mit ihm über diese Bilder diskutierten und gemeinsam ein veritables Kunstseminar abhielten.

Gebrauchsanweisungen, Baupläne, immer neue und zuweilen höchst konstruierte Regeln kennzeichnen die Oulipo-Literatur. Sie ist aber alles andere als a-historisch. Le Lionnais in Mittelbau-Dora, Georges Perec, der seine Mutter in Auschwitz verloren hat, unterschwellig schwingt die Geschichte in der Oulipo-Welt immer mit. "Treblinka oder Terezienbourg oder Katowicze", schreibt Perec in "Die dunkle Kammer", "die Moral dieser verblassten Episode scheint sich auf ältere Träume zu beziehen: Man rettet sich manchmal, indem man spielt . . .".

Oulipo&Co, bis 16. Februar. Espace Diaphanes, Berlin, Dresdner Straße 118.

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