Noch lagen in Kreuzberg Barrikadenreste herum, waren die Schaufenster am Kurfürstendamm nur notdürftig gesichert, noch laborierten Dutzende an ihren Verletzungen, als sich gut zehntausend Menschen vor dem Untersuchungsgefängnis Moabit versammelten, um friedlich zur Gedächtniskirche zu marschieren. Sie unterstützten die Forderungen der Hausbesetzer nach mehr Wohnraum, verlangten die Freilassung der festgenommenen Demonstranten - spätestens bis Weihnachten -, ferner den Rücktritt des Bausenators, des Innensenators und des Polizeipräsidenten. Dass auch Schaufenster kleiner Geschäftsleute zu Bruch gegangen waren, bedauerten sie. Falls die Versicherungen nicht zahlten, müsse der Senat einspringen.
So wünschten es die gut zehntausend Demonstranten, Berlin West, 20. Dezember 1980. Acht Tage zuvor hatte die Polizei am Fraenkelufer in Kreuzberg die Besetzung eines Hauses zu verhindern versucht. Es begann, was im Rückblick die "Schlacht am Fraenkelufer" hieß. Eine Unterstützerdemo am Kurfürstendamm wurde zur Prügel-, Zerstörungs- und Plünderorgie. Fraenkelufer 48 wurde dann doch besetzt, eine Welle weiterer Besetzungen folgte, der Senat versuchte, mit der "Berliner Linie der Vernunft" handhabbare Regeln für den Umgang mit Regelwidrigem zu finden. Es galt, Straßenschlachten und neue Hausbesetzungen gleichermaßen zu verhindern.
Gentrifizierungskritik als Deckvokabel
Sympathie für Instandbesetzungen war damals keine Berliner Besonderheit: In einer Umfrage der Allensbacher Demoskopen erklärten 53,7 Prozent, die Hausbesetzer hätten recht mit ihrer Kritik an der "Kahlschlagsanierung".
Im Sommer 2016 können die Kämpen aus dem besetzten Haus Rigaer Straße 94 auf Zustimmung kaum hoffen, höchstens auf Kumpanei unter Schlägern. Es scheint, als sei ihnen auch das egal. Dass Schlagwörter der Gentrifizierungskritik hier nur als Deckvokabeln für Lust an Gewalt und Terrordrohungen aufgerufen werden, hat sich herumgesprochen. Diese Hausbesetzer gleichen nicht einmal Karikaturen ihrer Vorgänger. Wie es sich im neoliberalen Zeitalter gehört, haben sie ihnen missfallende Aktivitäten mit einem Preis versehen. Die polizeilich gesicherten Sanierungsarbeiten in der Rigaer Straße soll die Stadt mit einem Sachschaden in Höhe von zehn Millionen Euro büßen. Diese Hausbesetzer wollen zerstören, abfackeln. Während der samstäglichen Demonstration durch Friedrichshain wurden 123 Polizisten verletzt, nun soll der "Konflikt" dezentral weiter vorangetrieben werden.
Heute ist die politische Botschaft der Besetzer auf die Lizenz zum Zuschlagen geschrumpft
Doch die Stadt, der ihre Drohung gilt, reagiert darauf mit großer Gelassenheit, beinahe mit Desinteresse. Manche nutzen die Gelegenheit, eine starke Meinung zu äußern oder an Vernunft und Rechtsstaat zu appellieren. Im Großen und Ganzen aber lässt die fragmentierte Berliner Stadtgesellschaft den Konflikt in der Rigaer Straße - Nord-Friedrichshain, beliebte Wohngegend mit hohem Potenzial - über sich ergehen wie die Reinszenierung eines Stückes, das man längst abgesetzt glaubte, das man auch nicht mehr sehen will, das endgültig abzusetzen aber die Kraft fehlt. Die Stadt ist weder verängstigt noch mobilisiert, nur empört über das kleinkriminelle, oft gemeingefährliche Treiben der Revoluzzer, die schon lange unter dem Revoluzzerschicksal leiden, nur noch ihre eigene Position zu verteidigen und ihre Privilegien mit "links" oder "Freiraum" zu verwechseln.
Solange sich aber die Stadtgesellschaft des Konflikts nicht annimmt, wird er weiter schwelen, werden Polizisten ihren Kopf hinhalten müssen und normale Leute fassungslos vor ihren verbrannten Autos stehen. Ein Anfang wäre es, die widerliche Parole von den "Bullenschweinen" ebenso zu tabuisieren wie die bei Antisemiten und Rassisten beliebten Tiervergleiche. Die politische Botschaft der Besetzer ist längst auf Enthemmung durch "Schweine"-Rhetorik geschrumpft, auf die Lizenz zum Zuschlagen.
Dass Anwohner der Rigaer Straße einen runden Tisch wünschen, um zu schauen, wie Deeskalation möglich wäre, ist eine gute Nachricht. Andere fragen zu Recht, was man mit denen reden soll. Auch sind die Rigaer-94-Aktivisten, deren Leben sich um die geräumte Kneipe "Kadterschmiede" dreht, zum Reden eher nicht aufgelegt, zu Dialog, Kompromiss und so kaum bereit. Gut möglich, dass Verständigungsversuche scheitern, dennoch wird eine liberale Gesellschaft darauf nicht verzichten können - es sei denn, sie wollte den Spielregeln der Eskalationsfanatiker folgen. Der Preis dafür wäre wohl zu hoch.
Das Gesicht des neueren Berlin ist immer auch von Hausbesetzern geprägt worden. Sie hatten ihre große Stunde, als die Stadtentwicklungspolitik in den Achtzigerjahren architektonisch, moralisch und finanziell gescheitert war. Am Kottbusser Tor in Kreuzberg kann man sich heute anschauen, welche Verwüstungen weiten Teilen der Stadt zugedacht waren. Im Rückblick wünscht man leichtfertig, es hätte damals mehr erfolgreiche Instandbesetzungen leer stehender, zum Abriss verdammter Häuser gegeben.
Damals waren jene, die in der Gewalt Gemeinschaft genossen, in der Minderheit
Der Historiker Sven Reichardt schildert in seinem Buch "Authentizität und Gemeinschaft" über "linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren" die Überraschung des Eigentümers eines Hauses (Görlitzer Straße 74), in dem eine Bürgerinitiative angefangen hatte mit Entrümpeln, Streichen, Fensterreparaturen. Er schickte eine Putzkolonne, die den Besetzern beim Sanieren half. Dann schloss man einen Mietvertrag. Das war ein Berliner Modell, bis mit der Schlacht am Fraenkelufer der militante Flügel der Bewegung entstand und den Kampf gegen "Beton, Bullen und Computer" an sich riss. Immer gab es auch Reformisten unter den Hausbesetzern. Jene, die in der Gewalt Autonomie und Gemeinschaft genossen, waren lange eine Minderheit.
Nach dem Fall der Mauer kam ein Teil der streit- und kampferprobten Besetzer in den Ostteil der Stadt, sie trafen dort auf junge DDR-Besetzer. Oppositionelle, Schwule, Lesben, Nonkonformisten hatten in der Mainzer Straße in Friedrichshain dreizehn Häuser besetzt, die für Plattenbauten abgerissen werden sollten. In der Stunde nach der Revolution schien vieles möglich zu sein, Neues notwendig. Mit der Vereinigung gerieten die Besetzer der Mainzer Straße in den Geltungsbereich der Berliner Linie, im November 1990 wurde geräumt, gnadenlos und unter einem Polizeieinsatz, wie man ihn so in Ostberlin nie wieder hatte erleben wollen. Bärbel Bohley, Gesicht und Kopf der friedlichen Revolution in der DDR, versuchte zu vermitteln und wurde bitter, als dies kläglich scheiterte. Die Polizeistrategen wollten ihr nicht zuhören, Bischof Forck nahm sich der Sache an. In der Folge schied die Alternative Liste aus dem rot-grünen Senat aus, eine Reihe von Hausbesetzern erhielt Mietverträge. Nach der Gewalt bemühten sich viele um Verhandlungslösungen.
Ein Denkmal anderer Zeiten
Zwei Adressen aus dieser Zeit der Hausbesetzungen: der "Eimer" in der Rosenthaler Straße, ein wunderbar gegenwärtiger, weil von Gegenwart nicht zu beeindruckender Club, 2001 geschlossen; das Tuntenhaus in der Kastanienallee, das es als Wohnprojekt bis heute gibt, ein Denkmal anderer Zeiten in einer Mitte aus Schuhläden und Touristen.
Diese reiche Tradition hätte einen anderen Schlusspunkt verdient als die "Schweine"-Rhetorik aus der Rigaer 94. Der Konflikt um die Gewaltverliebten schien eingefroren zu sein, bis der Innensenator Frank Henkel im Juni die Sanierung in einigen Räumen von der Polizei ermöglichen ließ. Henkel will hart bleiben, wobei unklar ist, was das heißt. Eine Strategie trauen diesem Innensenator viele nicht zu. Soll noch mehr Polizei gegen das Haus anrennen? Will die Stadt sich von den armseligen Besetzerdarstellern ein Bürgerkriegsszenario aufzwingen lassen? Die Kreuzberger Grünen könnten mit der Suche nach einem Schlichter schon mal anfangen, die Stadtgesellschaft kann überlegen, wie viele brennende Autos sie sich noch gefallen lassen will.
Für Instandbesetzungen ohne Gewalt, aber mit Ideen gibt es übrigens noch genug gammelnde Gebäude und Freiflächen in der Stadt.