Süddeutsche Zeitung

Ausnahmezustand:Wer schützt im Notstand die Freiheit?

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Ein Buch zur Krise: Anna-Bettina Kaisers Studie zum "Ausnahmeverfassungsrecht" misst die Gesetzgebung zum Notstand am Gemeinwohl.

Von Andreas Zielcke

Die Skepsis, mit der so viele renommierte Staatsrechtler auf die Ausgangssperren reagieren, ist kein Zufall. Dass ihnen wenig am Schutz der Bevölkerung vor dem Virus liegt, kann man guten Willens nicht unterstellen. Viel plausibler ist, dass sie aus unheilvollen Erfahrungen mit Ausnahmezuständen ihre kritischen Schlüsse ziehen.

In der Tat, angesichts des Machtmissbrauchs historischer und heutiger Ausnahmeregime ist das Misstrauen nachvollziehbar. Trotzdem lässt sich aus den schlimmen Erfahrungen nicht blindlings folgern, dass die jetzt wegen der Pandemie verhängten Notmaßnahmen ebenfalls illegitim sind. Aber es kann in der aktuellen Krise nur nützlich sein, sich die Gefahren des Ausnahmedenkens zu vergegenwärtigen.

Wie gerufen kommt hierfür das eben erschienene Buch "Ausnahmeverfassungsrecht" von Anna-Bettina Kaiser, die an der Humboldt-Universität Öffentliches Recht lehrt und sich mit der Arbeit habilitiert hat. Erstgutachter war, was eine eigene Pointe ist, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Würde der historische Rückblick des Buches nicht 2017 enden, als sich noch niemand die Viruskrise ausmalte, wäre es das verfassungsrechtliche Buch der Stunde. Aber auch so ist es sehr aufschlussreich.

Aus gutem Grund schaut es nur bis zur französischen Revolution zurück. Erst mit ihr trat, zumindest in Kontinentaleuropa, das Dilemma an den Tag, dass eine freiheitsgarantierende Verfassung in der Not mit der Abschaffung der Garantien konfrontiert wird. Die großen Etappen sind bekannt: Gleich zu Beginn die napoleonische Selbstermächtigung am 18. Brumaire (9. November 1799), mit der er "zum Schutz der Nation" den revolutionären Staat in eine Diktatur verwandelte; die Karlsbader Beschlüsse im Deutschen Bund; die späteren gescheiterten Versuche, etwa des Paulskirchenparlaments, den Ausnahmezustand freiheitskonform einzubinden; das destruktive Notverordnungsrecht der Weimarer Verfassung, auf dem noch die totalitäre Reichstagsbrandverordnung Hitlers beruhte; und schließlich die heftigen Konflikte um Notstandregeln im bundesdeutschen Recht.

Der Horror des freiheitlichen Juristen ist der Satz: Not kennt kein Gebot.

Schon diese knappe Skizze veranschaulicht, warum sich das Problem, extreme Ausnahmesituationen konstitutionell zu bewältigen, für demokratische Juristen vor allem von der Kehrseite her stellt. Im Vordergrund steht nicht die Frage, was in der Not zu schützen ist, sondern: Wie hütet man die Freiheit vor der im Notstand enthemmten Regierungsgewalt?

Das klassische Prinzip des Notstands ist die rechtlich erlaubte Entrechtung - die legale Suspension der Freiheitsrechte. Carl Schmitt hat dieses rechtszerstörerische Recht nicht erfunden, nur radikal formuliert. Um den inneren oder äußeren Feind zu bekämpfen, um den Staat zu retten, dürfen, ja müssen sich die Retter der Fesseln des Rechts entledigen. Steht die Nation auf dem Spiel, steht das Recht nicht im Wege. Bis heute ist der Horror des freiheitlichen Juristen der Satz: Not kennt kein Gebot.

Besonders die Erfahrung mit Artikel 48 der Weimar Verfassung steckt noch heute wie ein Trauma in den Köpfen liberaler Staatsrechtler, zumal die Nachkriegsgeschichte neuen Anlass bot. Unverdrossen entwarf man unter Adenauer wieder Notrechte nach dem Weimarer Modell, zwar erfolglos, aber der alte Geist war noch da. Tatsächlich verabschiedet wurden nachher die Notstandsgesetze, die Berufsverbote für verdächtigte Kandidaten des öffentlichen Dienstes, die Kontaktsperregesetze in der RAF-Ära, die vielen Antiterrorgesetze seit 2001. Und natürlich strahlen die verheerenden Exzesse der USA nach 9/11 herüber, Guantanamo, NSA, massenhafte Tötung durch Drohnen und vieles mehr, aber auch die maßlosen Inhaftierungs- und Überwachungswellen in Frankreich nach dem Terroranschlag im November 2015.

Kein Wunder also, dass heute wieder Befürchtungen hochkommen, auch wenn niemand Berlin mit Washington à la Bush oder Trump oder mit Budapest à la Orbán gleichsetzt. Vor allem die kritischen Juristen werden den Weg schätzen, den Kaisers Untersuchung einschlägt. Ihre leitende These ist, dass das Grundgesetz - das keinen Ausnahmezustand, aber viele einschneidende Ausnahmeregeln enthält - sich von dem illiberalen Prinzip, in der Not Freiheit und Demokratie zu suspendieren, verabschiedet hat. Stattdessen setzt es auf kontrollierte Grundrechtsschranken. Das bedeutet, dass Grundrechte ausnahmsweise eingeschränkt werden können, die Schranken aber ihrerseits beschränkt sind, um die gänzliche Aufhebung von Grundfreiheiten zu verhindern.

Der Europäische Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht fällten klare, bereinigende Urteile

Die beiden wichtigsten dieser "Schranken-Schranken" mögen uns inzwischen trivial erscheinen, doch sie sind selbst unter den demokratischen Staaten dieser Welt einzigartig, nämlich die sogenannte Ewigkeitsklausel des Artikel 79 Abs. 3 GG und Artikel 1 GG, der die Menschenwürde für unantastbar erklärt. Die Ewigkeitsklausel besagt, dass auch keine Verfassungsänderung den demokratischen, sozialen und gewaltengeteilten Staatsaufbau tangieren darf. Kurz, die Menschenwürde und die freiheitliche Demokratie sind notstandsfest. Unter keinen noch so verhängnisvollen Umständen stehen sie zur Disposition der Regierenden.

Dass dies, wenn es hart auf hart kommt, den Streit um das Unantastbare nicht beseitigt, überrascht nicht. Doch auch wenn klar sein sollte, dass zumindest Eingriffe wie die "Rettungsfolter" oder der Abschuss eines von Terroristen gekaperten Passagierflugzeuges absolut verboten sind, wollen selbst hier namhafte Juristen Ausnahmen machen, nicht zur Ehre ihres Standes. Immerhin fällten der Europäische Gerichtshof (zum Verhalten des Polizeipräsidenten Daschner im Mordfall Gäfgen) und das Bundesverfassungsgericht (zum Luftsicherheitsgesetz) klare, bereinigende Urteile.

Doch als Hauptquelle der Konflikte um die notstandsfeste Rechtssubstanz zeichnet sich ein anderes Problem ab. Traditionell war es der "Belagerungszustand", der Notrechte auslöste, also Krieg oder Aufruhr. Mit der Weimarer Verfassung aber trat ein weitergehender Auslöser an seine Stelle, die "Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung". Der Begriff entstammt nicht mehr dem kriegerischen, sondern dem polizeilichen Denken und liegt ähnlich auch vielen Ausnahmeregeln des Grundgesetzes zugrunde. Es versteht sich, dass die Abwehr einer solchen Gefahr viel unschärfer zu bestimmen ist als die Abwehr einer Invasion, der Vorsichtige kann die Prävention gegen Gefährder aller Art gar nicht weit genug vorverlegen, die Überwachungslogik des Antiterrorkampfes beweist es.

Folglich spricht man seither weniger vom Notstand als von der "Krise". Krisen wie die Weltwirtschaftskrise 1929, die Eurokrise 2008 oder jetzt die Viruskrise sind die modernen Notstände, gefährlich weniger für den Staat als für die Gesellschaft, und umso schwerer zu fassen. Nicht die Staatsräson, sondern das Gemeinwohl steht in der Krise im Vordergrund.

Damit verschiebt sich auch die Problematik Notstand versus Freiheit. Kaisers Studie macht, wie gesagt, keine Aussagen zur Pandemiekrise, aber sie ermöglicht eine Extrapolation. Das Spezifische an der Corona-Krise ist, dass die Menschenwürde auf beiden Seiten des Dilemmas ins Gewicht fällt. Der Staat darf gar nicht anders, als mit allen seinen Mitteln die Würde und das Leben der Bürger vor dem Virus zu schützen. Gleichzeitig darf er in die Freiheiten der Bürger nie tiefer eingreifen, als es deren Würde und die Fundamente des Rechts zulassen. Rücksichten auf ökonomischen Nutzen verbieten sich auf beiden Seiten. Entscheidend ist allein, dass der Antivirusschutz und die - jetzt nach und nach zu lockernden - Freiheitsbeschränkungen dieser doppelten Kontrolle standhalten.

Anna-Bettina Kaiser: Ausnahmeverfassungsrecht. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2020. 416 Seiten, 99 Euro.

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Quelle:
SZ vom 07.05.2020
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