Süddeutsche Zeitung

"Ausnahmezustand" von Navid Kermani:Hinter der nächsten Ecke brennt die Welt

Navid Kermanis gesammelte Reisereportagen aus Krisengebieten erzählen davon, wie Gewalt entsteht - und warum er als Chronist des Schreckens nicht immer unparteiisch bleiben kann.

Von Tim Neshitov

Navid Kermani, der habilitierte Islamwissenschaftler und Romanautor aus Köln, reist gerne. Er begibt sich in Weltgegenden, von denen viele Menschen wenig wissen außer, dass es dort "brennt". Er reist nach Syrien, Afghanistan, in den Gazastreifen. Man könnte ihn einen Hobby-Kriegsreporter nennen, wenn das Wort "Hobby" neben dem Wort "Krieg" nicht so seltsam aussähe. Eine Eigenschaft hat Kermani mit guten Kriegsreportern gemeinsam: Er kommt sich an den Schauplätzen des Weltgeschehens nicht wichtig vor, sondern er beschreibt diese so, dass man sie ein bisschen besser versteht.

Eine Sammlung von Kermanis Reisereportagen aus den vergangenen sieben Jahren ist nun bei C.H. Beck erschienen. Das Buch heißt "Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt" und bietet interessante Lektüre für alle, die schon an den Brennpunkten dieser Erde waren, noch bevor es dort brannte, oder vorhaben, dorthin zu reisen, wenn es nicht mehr brennt.

Ein Grund, warum Kermani sich bei seinen Recherchen in der Region wichtiger vorkommen könnte als manch anderer deutsche Reporter, ist seine Religion. Kermani wurde 1967 als Sohn iranischer Eltern in Siegen geboren, er ist nicht nur Islamwissenschaftler, sondern Muslim. Ein Beispiel aus Syrien, September 2012: Kermani besucht in Damaskus das Grab des arabischen Mystikers Ibn Arabi, der im dreizehnten Jahrhundert eine Theologie des Pluralismus prägte. Kermani zitiert ein Gedicht Ibn Arabis: "Mein Herz kann jede Form annehmen, / Für Gazellen eine Weide, für Mönche ein Kloster, / Ein Tempel für die Götzen, die Kaaba für Pilger / Die Tafeln der Tora, die Blätter des Korans. / Ich folge der Religion der Liebe / Wohin auch ihr Reittier sich wendet, / Dort kehre ich mich hin."

Kermani betet am Grab des Mystikers, als ihn ein Mann in gebrochenem Persisch fragt, ob er Iraner sei. "Offenbar hat er an der Stellung der Hände bemerkt, dass ich dem schiitischen Ritus gefolgt bin. Ich müsse vorsichtig sein, sagt er leise, Iraner hätten zur Zeit viele Feinde in Syrien." Teheran unterstützt den syrischen Staat mit Geld, Waffen und Beratern, deswegen sind die syrischen Rebellen nicht gut auf Iraner zu sprechen.

Aus dieser Begegnung ergibt sich ein Gespräch in der Ecke des Schreins, mit dem Kermani in wenigen Sätzen viel über Syrien erzählen kann. Der junge Mann sagt, er stehe auf der Seite Baschar al-Assads, von den Aufständischen spricht er nur als Terroristen und Extremisten. Er ist begeistert von Iran. Aber er weiß nicht, dass iranische Behörden gnadenlos Sufis verfolgen, also Menschen wie ihn, die zu Heiligengräbern pilgern. "Der junge Mann kann es einfach nicht glauben, so wenig er mir andererseits zu misstrauen scheint: Er nimmt den syrischen Staat als Bollwerk gegen den Islamismus wahr, der den Sufismus bedroht, und nun hört er, dass ausgerechnet der engste Partner, ja, die Schutzmacht dieses Staates die eigenen Sufis verfolgt und ermordet."

Der Aufstand in Syrien wirbele auch im Westen eingefahrene Muster der Wahrnehmung durcheinander, schreibt Kermani. "Das strikt säkulare, seinem ganzen Habitus nach weltliche Regime hat als Hauptsponsor eine islamische Theokratie, während der Westen auf Seiten einer Opposition steht, die jedenfalls in Teilen dezidiert religiös ist; vollkommen weltläufig wirkende, perfekt Englisch sprechende Syrer verteidigen die autoritären Strukturen mit dem Argument, dass das Volk für die Freiheit noch nicht reif genug sei, und fordern beim Whisky, dass die Armee die Aufständischen mit eisernem Besen aus dem Land kehrt, während bärtige Männer und streng verschleierte Frauen ihre Hoffnung auf die Demokratie setzen und an die Menschenrechte appellieren."

Solche Beobachtungen, zwischen Alltagsszenen eingestreut, sprechen für einen publizistischen Anspruch, der über die klassische Reportage hinausgeht. Klassische Reportagen sind Kermanis Texte sowieso nicht, da er selbst in den meisten von ihnen als Protagonist vorkommt. Er betet nicht nur in Schreinen, sondern lässt einen deutschen Fotografen, der ihn begleitet, die Spuren eines Massakers auf der Intensivstation eines syrischen Provinzkrankenhauses dokumentieren. "Es wird einmal ein Gericht geben, vor dem Beweise vorzulegen sind", erklärt er der Ärztin. "So Gott will", sagt die Ärztin, "ist es nicht erst das Jüngste Gericht."

In Teheran nimmt Kermani im Juni 2009 an den Straßenprotesten gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl teil. "Ohne zu begreifen, was ich tue, sprinte ich in einer Gruppe von vielleicht fünfhundert Menschen um die nächste Ecke. Weil von vorn schon das nächste Kommando auf uns wartet, verteilen wir uns an der ersten Kreuzung links und rechts in die Gassen (. . .) Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht mehr bloßer Berichterstatter sein, hinter uns die Knüppel, vor uns hilf Gott."

Parteiergreifende Berichterstattung mag im Journalismus als Tabubruch gelten, der Arbeit eines Chronisten wie Kermani schadet sie nicht. Das liegt auch daran, dass Kermani sehr konsequent die eigene Einstellung zu den Menschen infrage stellt, über die er schreibt. Im April 2005 bereiste er Palästina. Er sah, wie am Checkpoint von Gaza Palästinenser "wie Schweine rennend durch die Schleusen geschickt werden", während ein israelischer Soldat ihn fragte, was er dort verloren habe, ob er Tierarzt sei. Kermani traf, kurz vor dessen Tod, den palästinensischen Nationaldichter Mahmud Darwisch, der von Liebe zum Leben und zum Menschen schrieb ("Auch wir lieben das Leben, wo wir nur können.")

Dann schrieb Kermani einen Text, der das eigene Versagen als Reporter schilderte. "Das Leben in Israel gefiel mir so gut wie vor drei Jahren, aber ich konnte es nicht mehr genießen. Etwas in meiner Realität war eingebrochen wie eine Fassade aus Pappe. Etwas in mir sagte: Ihr seid schuld, jene sind die Opfer. Sie sind nicht bessere Menschen als ihr, aber ihr seid die Besatzer, nicht sie. (. . .) Da hätte ich dem Soldaten am liebsten ins Gesicht geschrien: Die Tiere seid ihr! Das darf man eigentlich nicht schreiben, nicht einmal weitererzählen, weil es so viel anderes ausblendet. Aber ich muss es jetzt schreiben, um zu erklären, warum ich nicht mehr alles in den Blick bekam. (. . .) Vielleicht ist das auch eine Beobachtung: dass mir das Verständnis verloren gegangen ist. Für mich als Autor ist das eine Kapitulation."

Alle Reisereportagen Kermanis sind bereits in unterschiedlichen deutschsprachigen Medien erschienen, die Pakistan-Kapitel etwa in dieser Zeitung im vergangenen Jahr. Die Veröffentlichung zwischen zwei Buchdeckeln war wohl verlegerisch eine naheliegende Idee. Liest man jedoch alle Geschichten hintereinander weg, überwiegt der Eindruck einer etwas bemühten chronologischen und geografischen Mischung. Indische Tagelöhner im Herbst 2007, eine Friedenskonferenz in Kandahar im Herbst 2011, der Alltag in den Hausbooten von Kaschmir 2007, ein Treffen mit dem Bürgermeister von Lampedusa 2008. Man fragt sich, ob eine Reportage aus Ciudad Juárez oder dem Ostkongo nicht besser zum Buchtitel "Ausnahmezustand" gepasst hätte.

Auch der Untertitel "Reisen in eine beunruhigte Welt" ist ein wenig irreführend. Denn nicht die Welt, die Kermani beschreibt, ist beunruhigt, sondern die Welt, in der nun dieses Buch erschienen ist. Wir, die Leser, sind beunruhigt über all diese Gegenden, in denen auf eine unheimliche Weise so viel Gewalt entsteht. Kermanis gut recherchierter, einfühlsamer Band zeigt, wie Gewalt entsteht. Und er erinnert daran, dass die fernen Opfer und Täter eines gemeinsam haben: Sie sind Menschen, wie wir.

Navid Kermani: Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt. Verlag C.H. Beck, München 2013. 253 Seiten, 19,95 Euro.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1603701
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.02.2013/mkoh
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.