Ausbeutung im 21. Jahrhundert:"Die Fabrikeigentümer denken ehrlich, dass sie den Arbeitern Gutes tun"

Ausbeutung im 21. Jahrhundert: Arbeit bis zur totalen Erschöpfung: Textilproduktion im indischen Bundesstaat Gujarat.

Arbeit bis zur totalen Erschöpfung: Textilproduktion im indischen Bundesstaat Gujarat.

(Foto: Pallas Film)

In seinem Film "Machines" dokumentiert Rahul Jain die Menschenfeindlichkeit der Textilproduktion in Indien. Ein Gespräch über 48-Stunden-Schichten und ermordete Gewerkschafter.

Interview von Paul Katzenberger

Der Titel dieser Doku erschließt sich schnell: Die Arbeiter in einer Textilfabrik im indischen Bundesstaat Gujarat sind nichts anderes als der menschliche Teil einer riesigen Maschinerie, die Rahul Jain in seinem Film "Machines" präsentiert. Ein dreckiges Labyrinth aus Hallen und Gängen, in dem Arbeiter unter entsetzlichen Bedingungen bis zur Erschöpfung schuften. Sie kommen aus allen Teilen Indiens, weil sie dort von der Landwirtschaft nicht mehr leben können. Zurück bleiben ihre Familien, die von den Arbeitern nun aus der Ferne ernährt werden. "Machines" fängt das Elend mit Bildern ein, deren Ästhetik auf Festivals vielfach prämiert wurde. Gleichzeitig monierten Kritiker, dass Jain den Blick nicht über die Fabrikmauer gerichtet habe, um Erklärungen für das Gezeigte zu liefern.

SZ: Herr Jain, in Ihrem Film nennt ein Arbeiter seinen Lohn: 210 Rupien für eine Zwölf-Stunden-Schicht. Das entspricht etwa drei Euro. Bei 20 Schichten im Monat käme er auf einen Monatslohn von 60 Euro. Wie viel kann er davon bei den gegebenen Lebenshaltungskosten in Gujarat für seine Familie sparen?

Rahul Jain: Die meisten Arbeiter schränken sich sehr ein. Sie leben zu dritt in winzigen Zimmern und essen sehr einfach. So kommen sie pro Monat mit circa 30 Euro aus. In Ihrem Beispiel könnten sie also 30 Euro sparen. Allerdings arbeiten viele deutlich mehr als 20 Schichten pro Monat.

Ein anderer Arbeiter erwähnt Doppelschichten - zwei Schichten hintereinander mit einer Stunde Pause dazwischen.

Es ist sogar noch viel extremer: Drei- und Vierfachschichten sind ganz normal - also 36 bis 48 Stunden Schinderei am Stück. Es gibt aber auch Arbeiter, die kommen auf 15 durchgehende Schichten.

Wie soll ein solcher Wahnsinn funktionieren? Der Mensch muss irgendwann einmal schlafen.

Sie schlafen während der Schicht in der Fabrik.

Das heißt aber, dass die Vorgesetzten bezahlten Schlaf dulden. Warum das?

Die Arbeiter helfen sich gegenseitig aus, das Pensum einer Zwölf-Stunden-Schicht möglichst früh zu schaffen. Dann schlafen sie direkt am Arbeitsplatz bis zu vier Stunden. Das wird von den Vorgesetzten geduldet, weil die natürlich auch wissen, dass der Schlaf eine biologische Notwendigkeit ist.

Die Arbeiter, die in Ihrem Film zu Wort kommen, kritisieren die niedrige Bezahlung und die Dauer der Zwölf-Stunden-Schichten. Wäre es in einer Demokratie wie Indien nicht möglich, das zu ändern? Etwa durch Parteien, die sich für ein Arbeitszeitgesetz starkmachen.

Gesetze, die Arbeitnehmer schützen sollen, sind in Indien schon längst in Kraft. Aber nur auf dem Papier. Was nützen diese Gesetze, wenn sie nicht durchgesetzt werden, und das den regierenden Parteien vollkommen egal ist?

Warum können die Massen der armen Menschen in Indien mit ihren Stimmen dann nicht Parteien an die Macht bringen, die für die Einhaltung der Gesetze sorgen?

Das liegt am politischen System des Landes. Die Parteienlandschaft Indiens ist auf den ersten Blick zwar sehr vielfältig, doch seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1949 lag die Staatsgewalt nahezu immer entweder beim Indischen Nationalkongress oder bei der Indischen Volkspartei (der BJP, der auch der derzeitige Premierminister Narendra Modi angehört; Anm. d. Red.). Gleichzeitig ist Indien eine Kleptokratie, politische und wirtschaftliche Macht sind eng miteinander verwoben. Die zwei Großparteien haben daher nicht das geringste Interesse, Arbeitnehmerrechte durchzusetzen. Und sie haben auch genügend Einfluss, andere Parteien daran zu hindern, entsprechende Gesetze geltend zu machen.

Offenbar werden auch Morde nicht geahndet? Im Film kommen zumindest Arbeiter zu Wort, die sehr genau wissen, dass sie Forderungen durchsetzen könnten, wenn sie Gewerkschaften gründen. Doch sobald sich Arbeiter organisieren wollten, sagen sie, sei es vorgekommen, dass Führer einfach umgebracht wurden. Das heißt: Angstmache verhindert die Gründung von Arbeitnehmervertretungen?

Genauso ist es. Ich bin ratlos, weil ich keine realistische Möglichkeit sehe, wie diesen Arbeitern geholfen werden könnte. Die Menschenfeindlichkeit, die zum Ausdruck kommt, ist kaum zu überbieten. Menschen sind nicht nur dazu da, irgendwann zu sterben. Vielmehr hat jeder ein Recht darauf, aus der Zeit etwas zu machen, die ihm zwischen Geburt und Tod bleibt. Normale Dinge würden da ja ausreichen: sich beruflich entwickeln, seine Kinder aufwachsen sehen oder Zeit mit Freunden verbringen. Doch all das wird diesen Menschen genommen.

Drastische Szenen verkniffen

Ausbeutung im 21. Jahrhundert: Arbeiter in Gujarat: Auch sie müssen irgendwann mal schlafen. Das sieht sogar der Fabrikbesitzer ein.

Arbeiter in Gujarat: Auch sie müssen irgendwann mal schlafen. Das sieht sogar der Fabrikbesitzer ein.

(Foto: Pallas Film)

Warum gestattete der Eigentümer der Fabrik Ihnen und dem Filmteam überhaupt den Zugang zu den Werkhallen? Er dürfte ja nicht das geringste Interesse daran haben, dass Sie die dortigen Zustände in Ihrer Doku anprangern.

Das möchte man meinen, wenn man die Situation mit einem westlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Verständnis betrachtet. Doch die Fabrikeigentümer in Gujarat haben eine ganz andere Auffassung von den Dingen. Sie sind ehrlich davon überzeugt, dass sie den Arbeitern Gutes tun, indem sie ihnen Arbeit geben. Viele Arbeiter kommen von weit her, um in Lohn und Brot zu kommen, was ihnen in ihren heimatlichen Bundesstaaten nicht gelingt. Das gibt den Fabrikeigentümern in Gujarat das Gefühl, dass sie so etwas wie Retter in der Not sind. Insofern hatten sie keinerlei Problem damit, uns die Filmerlaubnis zu erteilen. Ihnen war nur wichtig, dass keine Kinder auf den Aufnahmen zu sehen sind, um sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, sie gestatteten Kinderarbeit.

Zynischer geht es kaum.

Ich würde das nicht mit Zynismus beschreiben, sondern mit einem psychologischen Effekt, den es häufig gibt: Niemand will schließlich jeden Morgen mit dem Gefühl aufstehen, er sei ein Menschenschinder. Also erklärt man sich die Realität so, dass man die negativen Gefühle oder Gedanken vertreibt, die einem die Wirklichkeit zunächst aufzwingt. Die Psychologie nennt diesen Effekt "Rationalisierung". Bei den Fabrikbesitzern in Gujarat läuft sie so ab, wie ich es gerade erklärt habe. Aber auch die Arbeiter rationalisieren.

Inwiefern?

De facto sind sie Sklaven. Doch das wollen sie sich selbst gegenüber natürlich nicht eingestehen. Also sagen sie sich, dass sie ja niemand dazu zwingen würde, unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Was nicht wirklich zutrifft. Natürlich kommt kein Sklavenaufseher daher, der sie durch Gewalt zur Arbeit zwingt. Aber der Mensch muss essen, und wenn dir und deiner Familie in Uttar Pradesh, Bihar oder Westbengalen (indische Bundesstaaten, in denen Landflucht herrscht; Anm. d. Red.) keiner das Brot zu essen gibt, das du zum Überleben brauchst, dann musst du nach Gujarat kommen, um unter den dortigen Bedingungen zu arbeiten. Es besteht also durchaus ein Zwang, und damit ist es nichts anderes als moderne Sklaverei. Die Rationalisierung der Arbeiter ist besonders perfide, denn damit machen sie sich selbst noch verantwortlich für ihre Situation, und das erzeugt zusätzliches psychologisches Leid.

An all dem sind wir im Westen mitschuldig. Denn unsere Abnehmer könnten es zur Bedingung machen, dass sie nur Textilien kaufen, die unter menschenwürdigen Bedingungen hergestellt wurden. Doch das geschieht nicht. Warum sprechen Sie dieses Unrecht in Ihrem Film nicht an?

Natürlich wissen Zara, H&M und alle anderen westlichen Textilketten ganz genau, was in der Textilproduktion in Ländern wie Indien, Sri Lanka, Bangladesch, China oder Pakistan abläuft. Westliche Konsumenten wissen es vermutlich nicht immer, oder wollen es nicht wissen. Als Filmemacher muss ich es mir allerdings ganz genau überlegen, ob ich konkrete Schuldzuweisungen äußere. Denn es gibt den Straftatbestand der "üblen Nachrede", und diese Firmen haben große Rechtsabteilungen. Der Rechercheaufwand, um gerichtsfeste Anschuldigungen zu formulieren, ist entsprechend hoch. Er hätte den Rahmen dieses Projektes gesprengt.

Sie verzichten in Ihrem Film allerdings auch darauf, jene soziokulturellen Hintergründe durchsichtig zu machen, die Sie gerade erläutert haben. Einem westlichen Publikum dürfte der Zugang zum Film ohne diese Erläuterungen aber schwerfallen.

Das ist mir klar, und trotzdem habe ich mich ganz bewusst dazu entschieden, keine Infokästen einzubauen, oder die gesellschaftlichen Zusammenhänge sonst wie zu erklären. Das wäre mir vorgekommen, als ob ich Babykost serviere: alles mundgerecht aufbereitet, damit der Adressat nur noch schlucken muss und ansonsten passiv bleiben kann. Genau das wollte ich aber nicht. Ich will mein Publikum zum Nachdenken bringen, es dazu anregen, Fragen zu stellen. Deswegen habe ich mir auch drastische Szenen verkniffen, die wir gefilmt haben. Und die ich hätte zeigen können.

Zum Beispiel?

Wir hatten Aufnahmen von physischer Gewalt. Arbeiter wurden von Aufsehern verprügelt - es floss Blut. Hätten wir das im Film, wäre beim Zuschauer vor allem der Terror der Gewalt haften geblieben. Mir ging es aber vor allem darum, den Terror dieser Arbeitsbedingungen zu vermitteln.

Wären Sie diesem Anspruch nicht eher gerecht geworden, wenn Sie Einzelschicksale ausführlicher geschildert hätten? Der Film wäre anschaulicher geworden, wenn Sie verdeutlicht hätten, was jemand alles erleiden musste, bis er schließlich in Gujarat gelandet ist.

Ich wollte ganz bewusst keine Einzelschicksale ausmalen. Denn auch das hätte den Fokus von dem weggenommen, was dieser Film aus meiner Sicht auf den Punkt bringen sollte: die Ungeheuerlichkeit dieser Maschinerie in Gujarat. Ein Einzelschicksal ist wie ein bestimmtes Stück des Kuchens. Mir ging es aber um den ganzen Kuchen.

Ausbeutung im 21. Jahrhundert: Rahul Jain wurde 1991 in Neu-Delhi geboren und wuchs im Himalaya auf. Er absolvierte einen Bachelor der Künste für Film und Video am California Institute of the Arts (CalArts) in Santa Clarita bei Los Angeles. Inzwischen lebt er wieder in Delhi. "Machines" ist sein Debütfilm.

Rahul Jain wurde 1991 in Neu-Delhi geboren und wuchs im Himalaya auf. Er absolvierte einen Bachelor der Künste für Film und Video am California Institute of the Arts (CalArts) in Santa Clarita bei Los Angeles. Inzwischen lebt er wieder in Delhi. "Machines" ist sein Debütfilm.

(Foto: Pallas Film)
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