Aus den Untiefen der "Hölle":Der ewig junge Schrei der Lust

Wo verläuft die Grenze zur Pornografie? Eine Pariser Ausstellung zeigt Material aus dem erotischen Geheimfach der französischen Nationalbibliothek.

Joseph Hanimann

Eins sei gleich vorausgeschickt: Man verstehe die Hölle hier nicht metaphorisch. Sie existiert und trug in Paris lange das Registerzeichen Y2.

Aus den Untiefen der "Hölle": Doppelseite aus Marquis des Sades Roman "Justine oder vom Missgeschick der Tugend. Er schrieb ihn 1787 während seiner Haft in der Bastille.

Doppelseite aus Marquis des Sades Roman "Justine oder vom Missgeschick der Tugend. Er schrieb ihn 1787 während seiner Haft in der Bastille.

(Foto: Foto: Katalog)

Jede Bibliothek mag ihr eigenes Verfahren haben, skandalverdächtige Werke hinter Vorhänge und Geheimtüren, hinter Schloss und Riegel zu setzen. An der Vorgängerin der Pariser Nationalbibliothek, der Bibliothèque du Roy, kamen Bücher wie der 1748 anonym erschienene Roman "Thérèse philosophe", in dem die junge Titelheldin Bücher lesend und ausprobierend schnell ihre Jungfräulichkeit verliert, einfach in die Abteilung "Schöngeistiges", Unterabteilung: anzügliche Romane, "Romans licencieux".

Aus der Bibliothekshölle

Unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe, der französischen Entsprechung unseres Biedermeier, wurde ab 1844 diese Kategorie unter dem offiziellen Namen "Enfer" - Hölle - abgesondert, wenn auch aus freier bibliothekarischer Initiative, ohne jede offzielle Anordnung.

Wie die Zensur zog dann bald auch die pornographische Schrift- und Bildproduktion kräftig an. Die "Hölle" erweiterte sich mit Zeichnungen, Fotos und Texten aus zahlreichen Beschlagnahmungen. Bei einer Umregistrierung der Bibliotheksbestände bekam sie 1876 ihr eigenes Signaturzeichen.

Im Jahr 1913 veröffentlichte der Dichter Apollinaire, der sich in Sachen erotischer Literatur bestens auskannte, zusammen mit zwei Kumpanen unter dem Titel "L'Enfer de la Bibliothèque Nationale" den ersten Katalog dieses Geheimfachs. Ein halbes Jahrhundert später wurde die Bibliothekshölle abgeschafft - eine er großen emanzipatorischen Dummheiten der sechziger Jahre.

Nicht nur ging dabei eine reizvolle Nische der ehrwürdigen Bibliotheksinstitution verloren, sondern es ergab sich auch das Problem: Wohin fortan mit den neuen Titeln, die auf Grund der Vorschrift des "Dépot légal" - die obligatorische Abgabe von mehreren Exemplaren jeder Neuveröffentlichung oder Neuauflage an den Staat - bei der Nationalbibliothek weiterhin zahlreich eingingen? Es blieb nichts anderes, als die "Hölle" 1983 wieder aufzumachen. So existiert sie noch heute, wenn auch durch das Fegefeuer der Emanzipation enttabuisiert, geläutert, verharmlost und jedem frei zugänglich, der halbwegs lesen und eine Buchbestellkarte ausfüllen kann.

Diese Geschichte ist das eigentlich Interessante an der gegenwärtigen Ausstellung in der Pariser Nationalbibliothek, die erstmals - für Besucher ab sechzehn Jahren - ihre Höllenbestände vorführt. Jede größere Büchersammlung kann mit einigen Skandalstücken aufwarten, warum sollte gerade die Bibliothèque Nationale dazu nicht in der Lage sein?

Wer also über den ausgestellten Manuskripten oder Zeichnungen vom Marquis de Sade, von Pierre Louÿs, Georges Bataille, Hans Bellmer, Louis Aragon, Pierre Guyotat in Verzückung gerät, ist entweder naiv oder ein Heuchler. Das meiste ist bekannt. Gelungen ist aber die Art, wie die beiden Ausstellungsstränge - die Geschichte der "Hölle" einerseits und die unter dem Titel "Eros au secret" versammelten Exponate andererseits - ineinander gefügt sind.

Wo bleibt die Homosexualität?

Den über die teilweise tatsächlich gewagten Stiche, Zeichnungen, Manuskriptblätter und nachkolorierten Schwarzweißfotos gebeugten Besuchern aller Altersgruppen bis in die Greisenjahre wird auf Schritt und Tritt deutlich gemacht: Hier ächzt Geschichte, hier hallt der ewig junge Schrei der Lust. Das reizvolle Knistern zwischen den beiden kommt von der unerschöpflichen Phantasiefülle im Darstellen einer im Grund immer gleichen Sache. Auffallend schwach vertreten ist das Register der Homosexualität - liegt's an den Beständen?

Scharf zeichnet sich aus den Exponaten indessen noch einmal der bekannte Grenzverlauf zwischen Pornographie und Erotik ab. Wird bei der einen mit Rüschen- und Faltenzeichnung, mit raffinierter Papierfalt- oder moderner Beleuchtungstechnik das Vorzeigen durchs Verbergen zelebriert, so trachtet die andere nach umstandsloser, zugleich schock- und routinehafter anatomischer Direktheit. Wo wie bei de Sade zur bloßgestellten Nacktheit auch Gewalt und Tortur tritt, wird die Sache politisch subversiv - doch ist diese Verbindung durch gelehrte Analysen, Kommentare und Kritiken seither weitgehend entschärft.

Gerade der Surrealismus, der jene Verbindung besonders schätzte, wirkt im Kontext dieser Ausstellung mit seinem Hang zur Stilisierung beinah idealitätsfromm. Kühn erscheint hingegen mit seinen anatomischen Präzisionszeichnungen der Architekt Jean Jacques Lequeu, der detailfreudig jungfräuliche und geschlechtsreife Vulven nebeneinander setzt, als wären es Blüten- und Herbstblätter unterm wechselnden Sonnenlauf.

In diesen wohl ausgemessenen Grenzen erweist sich das Thema von Eros im Geheimkabinett als publikumswirksam. Beinah doppelt so viele Besucher wie sonst üblich würden von der Ausstellung angelockt, ist zu hören.

Einen reizvollen Ableger hat die Veranstaltung auch im Pariser Stadtalltag gefunden. Von Mitte Dezember bis Mitte Januar werden die Métrozüge auf der Linie 10 an der seit Jahrzehnten geschlossenen Haltestelle "Croix Rouge", zwischen Sèvres-Babylone und Mabillon, das Tempo verlangsamen. Durchs Fenster können die Fahrgäste dort hinter Vorhängen, die vom Fahrtwind bewegt werden, Fragmente von erotischen Druckgraphiken aus der Nationalbibliothek erspähen: ein Nebeneingang zur Hölle, die heute an der Nationalbibliothek überlebt.

Die Ausstellung "L'Enfer de la Bibliothèque. Eros au secret" in der Bibliothèque Nationale de France läuft noch bis zum 2. März 2008. Der Katalog (470 Seiten) kostet 38 Euro.

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