Nachlass-Erzählungen:Neues von der Plaudertasche

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Lesen als Abenteuer, heißt es über den Schriftsteller Bolaño immer, und man muss hinzufügen: Das gilt auch für sein Schreiben.

(Foto: imago/ZUMA Press)

Mal wieder sind Erzählungen des 2003 verstorbenen Autors Roberto Bolaño aufgetaucht. Wie all seine Texte sind sie Sonden in ein politisches und gesellschaftliches Unbewusstes - und Liebeserklärungen an die Literatur.

Von Nicolas Freund

Zuletzt war die Stimmung etwas gekippt. Roberto Bolaño, der mit seinen Romanen "2666" und "Die wilden Detektive" posthum zum wichtigsten lateinamerikanischen Schriftsteller seit Gabriel García Márquez avanciert und von manchen gar zur "Portalfigur" der Literatur des 21. Jahrhunderts ernannt worden war, galt plötzlich als Labertasche. Beim Wiederlesen seiner großen Romane stellten manche enttäuscht fest, diese endlosen Geschichten über arme Poeten, brutale Mörder und verschollene Schriftsteller, seien gar nicht so magisch, wie man sie in Erinnerung hatte. Plötzlich gab es Diskussionen über die Frage, welche Texte Bolaños veröffentlichungswürdig seien und welche nicht. Was war passiert?

Magisch wollte Bolaño nun gerade nie sein, und möglicherweise haben dieser Stimmungswechsel und die Eindämmungsversuche der Literaturwissenschaften etwas damit zu tun, dass seit Jahren auf fast magische Art und Weise immer neue Texte aus dem Arbeitszimmer des schon 2003 verstorbenen Autors auftauchen, die sich meist als verworfene Jugendromane oder Skizzen zu seinen Hauptwerken herausstellten, was sie aber nicht weniger interessant machte. Denn das, was oft als Plaudern bezeichnet wird, ist tatsächlich die Essenz der Poetik Bolaños.

Bolaño war Dichter und begann erst spät, ein wenig in den Achtzigern und ernsthaft in den Neunzigern, Prosa zu schreiben. Mit dem Wechsel zur Prosa legte er auch den Anspruch ab, jedes Wort wie ein Mosaiksteinchen an seinen bestimmten Platz zu setzen. Man kann davon ausgehen, dass Bolaño wie seine Figuren stundenlang in Cafés über einzelne Verse diskutieren konnte und das auch tat. Prosa, also Romane und Kurzgeschichten, zu schreiben, war für Bolaño auch mit einem anderen Modus des Schreibens verbunden. Er verbrachte die letzten Jahre seines Lebens - als er schon wusste, dass seine wegen einer unbehandelten Hepatitiserkrankung in seiner Jugend geschädigte Leber ihm wahrscheinlich einen frühen Tod bescheren würde - mit stundenlangen Schreibsitzungen, hörte nebenher Musik, sah fern und trank Kamillentee. Es ging um das Schreiben als Experiment, als Abenteuer, als intellektuelle Expedition, die manchmal gelang, manchmal nicht, was aber nichts aussagte über das, was dann da geschrieben stand, das eine Art Protokoll des Denkens war, ein geronnener Schreibprozess zum Nachlesen. Lesen als Abenteuer, heißt es über Bolaño immer, und man muss hinzufügen: Das gilt auch für sein Schreiben.

Der neueste Band aus Bolaños Nachlass mit drei Kurzgeschichten ist nun wieder bei Hanser herausgekommen, und vermutlich handelt es sich um mit die letzten noch unveröffentlichten Texte aus dem Nachlass. Vor allem die erste Geschichte liefert den Kritikern der Herausgeber Bolaños neue Munition, variiert sie doch wie auch "Der Geist der Science-Fiction" und manche andere Erzählung Themen aus "Die wilden Detektive". Arturo Belano, das Alter Ego Bolaños und mutmaßlich der Erzähler von "2666", reist mit seiner Familie aus Chile nach Mexiko. In vier Teilen, von denen eine die Prosaversion des Gedichts "Der Wurm" ist, versucht dieser Belano zwischen allerlei denkwürdigen Begegnungen so etwas wie Sinn aus seiner Familiengeschichte und seinem unsteten Platz in der Welt zu generieren. Im Hintergrund ist deutlicher als sonst noch der Militärputsch in Chile als apokalyptisches Ereignis präsent, das den jungen Belano / Bolaño in die Welt hinaus katapultierte. Vieles ist hier sicher autobiografisch, vieles ist aber auch sicher erfunden.

Den Faschismus sah er in vielen Formen und Varianten heraufziehen

Die Vermischung von Fiktion und biografischen Fakten ist eines der zentralen Verfahren Bolaños. Alles wird Literatur, alles wird Kunst, alles wird zu Träumen, die in seinen Werken immer wieder wie rätselhafte Kontrapunkte das Geschehen begleiten. Die zweite Geschichte, "Vaterland", besteht aus kurzen Skizzen, vor allem aus dem Chile der Militärdiktatur, wo Bolaño in seiner Jugend auch kurz in Folterhaft gewesen sein soll. Das Flugzeugmotiv der Ausreise wird hier wieder aufgegriffen mit einer deutschen Messerschmitt-Maschine, die bei Bolaño auch an anderer Stelle schon vorkam und die hier wie ein bedrohlicher Vorbote des Faschismus, eines weiteren zentralen Themas Bolaños, über dem Gefängnis kreist.

Der letzte Teil ist völlig neu, "Komödie vom Schrecken in Frankreich" erzählt nach dem Erlebnis einer Sonnenfinsternis von der Begegnung eines 17-jährigen Dichters mit einem Vertreter einer surrealistischen Untergrundkünstlergruppe, die den Jugendlichen über eine Telefonzelle kontaktiert, an der er zufällig vorbeikommt.

Der Surrealismus ist natürlich eng dem Infrarealismus verwandt, der subversiven und radikalen Literaturströmung, die der junge Bolaño ins Leben gerufen hatte. Ein beliebtes Verfahren der Surrealisten war die Écriture automatique, bei dem durch eine Zurücknahme des schreibenden Ichs das Unbewusste angezapft werden und sich bisher Verborgenes offenbaren sollte. Auch die Surrealisten wollten alles zur Kunst machen und in der Erzählung, die mit der Sonnenfinsternis beginnt und mit ihrem Zoll endet, nämlich einer Erblindung, lässt sich als ironische und zugleich bewundernde Auseinandersetzung Bolaños mit dieser für ihn so wichtigen Strömung lesen. Diese "schwarze Sonne" ist auch als Chiffre auf den Faschismus lesbar, deren Schatten Bolaño in vielen Formen und Varianten aufziehen sah.

Die Geschichte soll 2002 und 2003 entstanden sein, also kurz vor Bolaños Tod, aber auch in den anderen beiden Geschichten zitiert er noch einmal alle seine großen Themen, auch die Science-Fiction, die Gewalt gegen Schutzlose und sogar kurz das eigene Leiden und Sterben, in Form des Wartens auf eine Organtransplantation, die nie kommen wird. Diese drei Erzählungen sind für Bolaño-Fans wieder eine kleine Neuwendung des Werkes, voller Details und Ergänzungen. Für Neuleser sind sie ein etwas rätselhafter, aber mit Sicherheit faszinierender Überblick über die wichtigsten Verfahren und Themen Bolaños, der am Ende eine große Traurigkeit hinterlässt, weil mit jedem dieser neuen Bücher klar wird, wie früh dieser vor Einfällen, Ideen, Einsichten und Vermutungen überbordende Autor gestorben ist.

Bolaños Texte sind Sonden in ein politisches und gesellschaftliches Unbewusstes

In einer der kurzen Skizzen der mittleren Geschichte wird der Anfang eines Gedichts von W. H. Auden zitiert, über die alten Meister, die, wenn es um Leiden ging, nie falsch lagen und die wussten, dass es stattfindet, während woanders das Leben weitergeht, als wäre nichts. Das Zitat stammt aus dem Gedicht "Museé des Beaux Arts", das mit einer Beschreibung des Pieter Bruegel dem Älteren zugeschriebenen Gemäldes "Landschaft mit dem Sturz des Ikarus" endet: Schiffe fahren, ein Bauer pflügt sein Feld, ein Hirte schaut zum Himmel und im Meer versinkt der eben gestürzte Ikarus, nur noch ein Bein schaut strampelnd aus dem Wasser.

Vielleicht begriff Bolaño seine Rolle ähnlich: Als einer, der die Katastrophe, das Unglück, die Gewalt darstellt, wo andere wegschauen, und der von der Katastrophe schon erzählt, wenn sie gerade erst anhebt und ihre wahren Ausmaße gerade erst andeutet. Bolaño schrieb die Gewalt, die physische und die politische, anhand seiner eigenen Biografie in die Geschichte ein. In der Fassade des Alltags erblickte er das Grauen und verwandelte das Leben deshalb in Literatur, um wenigstens anzudeuten, was andernfalls ungesehen, ungehört, ungelesen bliebe.

Bolaños Texte sind Sonden in ein politisches und gesellschaftliches Unbewusstes, die keine Fakten, sondern Gefühltes, Gefürchtetes und Rätselhaftes zutage fördern. Sie sind immer große Liebeserklärungen an die Literatur und dieser Band ist keine Ausnahme.

Roberto Bolaño: Cowboygräber. Drei Erzählungen. Aus dem Spanischen von Christian Hansen und Luis Ruby. Mit einem Nachwort von Heinrich von Berenberg. Hanser, München 2020. 192 Seiten, 22 Euro.

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