"Aurora" im Kino:"Jeder tötet täglich"

Der Rumäne Cristi Puiu ist einer der begabtesten Regisseure des europäischen Autorenkinos. Doch auf bloßes Erzählen hat er keine Lust mehr. Puiu setzt auf Radikalität. In seinem neuen Film "Aurora" wird ein Mann zum Mörder. Es ist seine einzige Möglichkeit, der Welt seine Wahrheit aufzuzwingen.

Tim Neshitov

Diese Tage kommt in Deutschland, Frankreich und der Schweiz der jüngste Film des rumänischen Regisseurs Cristi Puiu in die Kinos. Er heißt "Aurora" und ist das, was manche Filmkritiker "schwere Kost" nennen, wenn sie das Ausbleiben vom Massenpublikum prognostizieren. "Aurora" wurde 2010 in Cannes gezeigt, aber nicht ausgezeichnet. Nach dem internationalen Erfolg von "Der Tod des Herrn Lazarescu" hatte man von Puiu mehr erwartet als diese "radikale Radikalität", schreibt ein Puiu-Kenner in der jüngsten Ausgabe der Pariser Zeitschrift Cahiers du cinema.

"Aurora" im Kino: Puiu ist 45 Jahre alt, er hat drei Töchter, einen grunzenden Mops und ein geräumiges Atelier im Zentrum von Bukarest. In "Aurora" tötet er.

Puiu ist 45 Jahre alt, er hat drei Töchter, einen grunzenden Mops und ein geräumiges Atelier im Zentrum von Bukarest. In "Aurora" tötet er.

Man sieht in "Aurora" einen konzentrierten Mann Mitte vierzig, der eine langweilige Kapuzenjacke trägt, Auto fährt, Zigaretten raucht. In einer Tiefgarage erschießt er einen Notar, der ein Verhältnis mit seiner Frau hatte, dann eine Dame, die er gar nicht kennt, und später noch die eigenen Schwiegereltern. Am Ende geht er zur Polizei und sagt: "Sie scheinen zu glauben, dass Sie mich verstehen. Das macht mir Angst." Dann kommt schon der Abspann mit einem fröhlichen Klavierstück von Loius Moreau Gottschalk, Le Bananier. Der Film dauert drei Stunden und eine Minute. Puiu spielt selbst die Hauptrolle, den Mörder.

Wohlwollende Kritiker mutmaßen, der Regisseur kämpfe derzeit mit "inneren Dämonen". Den beliebten "Lazarescu" hält er rückblickend für eine "misslungene Fabrikation" und "Aurora" für seinen bisher besten Film. Puiu, der im April die internationale Jury des Go-East-Filmfestivals in Wiesbaden leiten wird, sagt Sätze wie diesen: "Eigentlich haben die wichtigsten Fragen im Leben nichts mit Kino zu tun." Was ist los mit Cristi Puiu, einem der begabtesten Regisseure des europäischen Autorenkinos?

Puiu ist mittlerweile 45 Jahre alt, er hat drei Töchter, einen grunzenden Mops und ein geräumiges Atelier im Zentrum von Bukarest. Er unterrichtet Regie an der Theater- und Filmhochschule und hört auf der Fahrt dorthin Frank Zappa. Er beschleunigt gerne in den Kurven, bremst scharf ab und lauscht dem krustigen Märzdreck unter den Reifen.

"Zufälle sind nur Konstruktionen unseres Hirns"

Vor zwei Tagen erschoss ein Bukarester Krankenwagen-Fahrer in einem Friseursalon die eigene Frau und eine Friseurin. Er steckte seine Pistole ruhig in die Jackentasche und trat hinaus in die Sonne. Großes Thema in den Abendnachrichten. "Ein Freund rief mich an", sagt Puiu, "Mensch, das ist ja bei dir um die Ecke, da findet Aurora statt!" Wie der Mörder in "Aurora" war der Mörder vom Friseursalon gerade dabei, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Und auch er ließ sich widerstandslos festnehmen.

"Menschen sprechen von Zufällen", sagt Puiu. "Aber Zufälle sind nur Konstruktionen unseres Hirns. Wir brauchen sie, um unseren kleinen Kosmos aufrechtzuerhalten." Puiu hat sich seit Tagen nicht rasiert. Er sagt, Menschen würden dazu neigen, die Zeit in Vergangenheit und Zukunft zu teilen und nach Zusammenhängen zu suchen, anstatt zu akzeptieren, dass es keine Zusammenhänge gebe. "Keine Kausalität." Die Sonne prallt in die dreckige Ampel, man kann schwer erkennen, ob sie schon grün ist. Puiu sagt, ein Verbrechen sei ein Eingriff in das Weltgeschehen und ein Kunstwerk sei das auch. Es gebe eine Ähnlichkeit zwischen dem Autor eines Verbrechens und dem Autor eines Films. "Die dunkle Seite des Schaffens."

Puius großes Vorbild ist Lucian Pintilie, der 78-jährige rumänische Regisseur, dem das New Yorker Museum of Modern Art in diesem Monat eine Retrospektive widmete. Pintilie wurde aus diesem Anlass gefragt, ob er sein eigenes Land verstehe. Er antwortete, er habe Rumänien erst nach dem Sturz von Nicolae Ceausescu im Dezember 1989 verstanden: "Als ich sah, wie General Stanculescu Papierflugzeuge bastelte, während er auf die Hinrichtung Ceausescus wartete. Als ich die Zärtlichkeit zwischen den beiden Idioten sah (gemeint sind der Diktator und seine Frau - Red.). Als ich merkte, wie selbstverständlich die Rumänen entdeckten, dass Mord Teil ihrer Natur ist."

Rumänische Nouvelle Vague

Um Mord ging es bereits in Pintilies Meisterwerk "Rekonstruktion" von 1968, einem Film, den Cristi Puiu für den wichtigsten in der Geschichte des rumänischen Kinos hält. In "Rekonstruktion" zwingt ein Staatsanwalt zwei Delinquenten, ihre Suff-Prügelei mit einem Ober vor der Kamera nachzustellen; so soll ein Propagandafilm über die Gefahren des Alkohols entstehen. Bei den amateurhaften Dreharbeiten prallt einer der Jugendlichen mit dem Kopf gegen den Boden und stirbt, das Kamerateam ist da schon abgereist. Der andere Jugendliche fällt in die Hände eines Bruegel-haften Mobs, der von einem Fußballspiel zurückkehrt. Kurz nach dem Kinostart wurde "Rekonstruktion" in Rumänien verboten, Pintilie ging ins Exil und arbeitete bis zur Hinrichtung Ceausescus als Theaterregisseur in Paris.

Derzeit beschäftigen sich viele Filme der rumänischen Nouvelle Vague mit der Zeit vor 1989. Regisseure wie Corneliu Porumboiu, Cristi Mungiu (Goldene Palme 2007 für "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage") und Radu Muntean sehen sich als Schüler von Pintilie und erzählen vom Leben und Überleben in der Ceausescu-Diktatur und vom karnevalesken Umgang mit dieser Vergangenheit. Diese Regisseure werden auf internationalen Festivals gefeiert, nicht zuletzt weil sie dem Publikum Rumänien näher bringen. Das Land, dessen Präsident an bestimmten Tagen lila trägt, um das Böse abzuwehren, ist auch nach dem EU-Beitritt 2007 vielen Europäern fremd geblieben.

Cristi Puiu aber, der vor zwölf Jahren mit einem rebellischen Roadmovie die rumänische Nouvelle Vague auslöste, geht derzeit andere Wege. Er dreht Filme, die um das Ziel, Rumänien zu erklären, einen großen, mäandernden Bogen machen. Er will etwas völlig anderes: die Zuschauer daran erinnern, dass sie im Grunde nichts verstehen können. Nicht Rumänien, nicht die eigenen Nachbarn im Treppenhaus, geschweige denn sich selbst. "What the fuck do you understand?", sagt Puiu, wenn er imaginäre Gespräche mit Filmkritikern führt, die von ihm mehr Erzählkino erwarten.

"Nicht die Geschichte eines psychopathischen Mörders"

Puiu parkt im engen Innenhof der Film- und Theaterhochschule. Unter Ceausescu war hier die Gendarmerie untergebracht. Es ist ein Gebäude mit langen, weiß getünchten, sich in Kurven windenden Korridoren, in denen man Menschen, die nur wenige Meter entfernt sind, zwar hört, aber nicht mehr sieht. Puiu raucht im Dozentenraum. Er trägt ein Sakko mit Ellbogen-Patches und ein zartrosa Hemd. "Aurora ist nicht die Geschichte eines psychopathischen Mörders", sagt er. So etwas könnten nur Menschen behaupten, die "Lazarescu" für einen Film über Rumäniens marodes Gesundheitswesen halten. Für "Lazarescu" bekam Puiu 2005 in Cannes den Preis Un certain regard. Der Film erzählt von einem still trinkenden Rentner, der sich eines Abends unwohl fühlt und die ganze Nacht von einem überfüllten Krankenhaus zum nächsten gefahren wird und dabei in engelhafte Einsamkeit versinkt, während sich zu Hause der dicke Nachbar um Lazarescus Katzen kümmert, oder vielleicht auch nicht. "Lazarescu" war ein Film, der mehr Fragen aufwarf, als er beantwortete.

Mit "Aurora" ist Puiu noch weitergegangen. Er sagt, zwischen "Lazarescu" und "Aurora" sei in seinem Leben nichts Besonderes passiert. Er habe bloß sein Verständnis von Kino weiterentwickelt. In "Aurora" gehe es um einen Mann, sagt Puiu, der eines Tages aufwacht und feststellt, dass seine Uhr kaputt ist. "Der Mensch versucht, die Uhr zu reparieren - mit einem Hammer." Puiu drückt seine Zigarette aus. "So einfach ist das."

Er trinkt Kaffee, seelenruhig, als wären alle Fragen beantwortet, zündet sich noch eine Zigarette an. Kaffee trinken und rauchen, das mag Puiu, und man muss dabei an seinen Kurzfilm "Zigaretten und Kaffee" denken, der 2004 den Goldenen Bären in Berlin gewann. Im Film selbst wurde nicht geraucht, es ging um einen jungen Mann, der mit einer Stange Zigaretten und einer Packung Kaffee seinen Chef bestechen will, damit der seinem alten Vater Arbeit verschafft. Eine kluge Hommage an Jim Jarmusch.

"Suppe essen oder Suppe filmen"

Fragt man den rauchenden, Kaffee trinkenden Puiu, wie er das meint mit der kaputten Uhr und dem Hammer, spricht er davon, dass jeder Mensch ein Weltbild habe, und wenn dieses Weltbild Schaden nehme, versuche der Mensch es eben zu reparieren. Puiu spricht davon, dass es keine absolute, für alle Menschen gültige Wahrheit gebe, dass jeder Mensch versuche, seine eigene Wahrheit der Welt aufzuzwingen. Mord sei nur eine extreme Art, dies zu tun. Es gebe aber auch andere Arten: "Jeder von uns tötet tagtäglich Hoffnungen, Erwartungen und Vorstellungen der anderen. Darum geht es in Aurora, um das Ringen der Perspektiven." Die Kamera ist in "Aurora" immer an einer Stelle fixiert. Es gibt keinen Perspektivenwechsel. Verschwindet ein Protagonist im Nebenraum, sieht der Zuschauer lediglich das, was die Kamera durch den Türrahmen erspäht.

Seine Studenten bewundern Puiu. Sie rauchen geduldig vor dem abgedunkelten Lehrraum. Der 28-jährige Sebastian findet Puius Kritik am Mainstream-Kino mutig. "Er zeigt Eier", sagt Sebastian. Der Regiestudent hat sich die wichtigsten Stationen seines Lebens - eine Messerschlägerei, eine große Liebe, eine Scheidung - in die Arme tätowieren lassen. Er würde gerne einen Dokumentarfilm drehen, bei dem "die Struktur langsam verschwindet".

Keine künstlichen Strukturen, das ist Puius Botschaft an seine Schüler. Sie sollen nichts demonstrieren, sie sollen beobachten: "Regisseure, die glauben, dass sie etwas demonstrieren müssen, können vielleicht schlüssige Geschichten erzählen. Sie können bestimmte Gefühle oder Gedanken hervorrufen. Aber sie sind Geschichtenerzähler, keine Cineasten." Deswegen gefällt Puiu sein eigener "Lazarescu" nicht mehr. "Der Film ist eine Rekonstruktion der Tatsachen, die zu penibel ist, um wahr zu sein."

Stoff, der schwer zu filmen ist

Puiu zeigt seinen Studenten das "Tagebuch" des israelischen Filmemachers David Perlov, einen langen Dokumentarfilm, der nichts demonstriert und viel zeigt. Perlov begann 1973, kurz vor dem Jom-Kippur-Krieg, seine Umgebung zu filmen, Menschen auf der Straße, die eigene Familie. Er war vom kommerziellen Kino angewidert. In einer Szene am Anfang zeigt Perlov, wie seine Tochter Suppe isst. Auf dem Tisch steht eine zweite Schüssel, für den Vater. "Ich muss mich nun entscheiden", sagt Perlov im Off. "Suppe essen oder Suppe filmen." Cristi Puius Studenten lachen im Dunkeln.

Seine jüngste Tochter ist zwei Jahre alt. Wenn Puiu nach Hause kommt, steht sie vor der Küchentür, neben dem Mops, und beobachtet den Vater still. Sie lächelt und schweigt, der Mops grunzt. Puiu macht eine Flasche Rotwein auf, seine Frau Anca, die auch seine Produzentin ist, stellt eine Ente in den Ofen. Sie redet nicht viel. "Wenn jemand Geige spielt", sagt Puiu, "sagen die Menschen: Oh, das ist harte Arbeit, der muss acht Stunden am Tag üben. Und das Hören ist auch Arbeit. Aber wenn jemand Filme dreht, gilt das irgendwie als Spaß, und die Zuschauer sollen auch Spaß haben."

Puiu will keinen Spaß haben. Als Nächstes will er ein Buch des russischen Philosophen Wladimir Solowjew (1853-1900) verfilmen. Diesen Stoff hat er vor allem deswegen ausgesucht, weil er schwer zu verfilmen sei. Es soll viel gesprochen werden, vor allem aneinander vorbei, und es soll um den Ursprung des Bösen gehen.

Diese Suche nach der Wahrheit, macht sie ihn nicht müde?

Schon, sagt Cristi Puiu. Aber dann seien da diese seltenen Momente, höchstens drei, vier Minuten pro Film, die nichts mit dem Drehbuch zu tun hätten und nichts mit der Regie, die sich einfach ergäben. "Als hätte jemand Gott gesagt, da ist ein Kerl, der klopft wie verrückt an der Tür, und Gott hätte sagt: Na macht kurz auf, der soll endlich Ruhe geben."

Und wenn er zu müde sei, sagt Puiu, esse er einfach Suppe.

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