Süddeutsche Zeitung

August Diehl:"Was Marx gedacht und geschrieben hat, passt auch heute noch"

Schauspieler August Diehl zeigt in seinem neuen Film Karl Marx als jungen Idealisten. Ein Gespräch über die Parallelen zur Gegenwart und den Menschen hinter dem Mythos.

Interview von Paul Katzenberger

"Hatte Marx doch recht?", fragte kürzlich die Zeit und spitzte die Frage mit einer Beschreibung der aktuellen Lage zu: "Gierige Manager, schreiende Ungerechtigkeit und der Aufstand der Vergessenen: Karl Marx hat alles kommen sehen."

Die gleiche Frage hat offenbar auch Regisseur Raoul Peck umgetrieben, weswegen er nun einen Film über die Anfänge des Philosophen in die Kinos gebracht hat. "Der junge Karl Marx" zeigt den Ökonomen als jungen Idealisten, der an eine bessere Welt glaubt und viel Tatkraft ausstrahlt - und in Friedrich Engels einen Wesensverwandten findet. Der Schauspieler August Diehl verkörpert Karl Marx.

SZ.de: Herr Diehl, ist es nicht eine unzulässige Idealisierung von Karl Marx, ihn nur als jungen Mann darzustellen?

August Diehl: Warum unzulässig? Gibt es da Verbotsschilder?

Weil wir mit dem alten Karl Marx heute sehr stark ein Dogma verbinden, und dem weicht der Film aus. Aber können wir Marx ohne sein Dogma überhaupt betrachten?

Aber sicher. Im Gegenteil: Unser Blick auf Marx ist durch das, was er ausgelöst hat, sogar verfälscht.

Warum?

Weil wir ihn sehr mit dem 20. Jahrhundert in Verbindung bringen. Mit der Sowjetunion, mit dem Kalten Krieg, mit dem Mauerfall. Doch das ist nicht Karl Marx. Marx ist ein Kind der Französischen Revolution, ein Mensch des 19. Jahrhunderts, der keine Ahnung hatte von der Sowjetunion, und der Russland übrigens immer verachtet hat.

Die Welt hat ihn vereinnahmt, entweder als Feindbild oder als Leitfigur, und die Wahrnehmung von ihm wurde dadurch verfälscht?

Genau. Ich glaube, es ist wichtig, sich bei solchen Leuten mit ihren Anfängen zu beschäftigen. Wie ihre Ideen entstanden sind, und zwar nicht nur aus welchem Menschen heraus, sondern auch aus ihrer Zeit heraus. Karl Marx hat erkannt, dass die Industrielle Revolution eine Maschinerie hervorbringt, die die Menschen zugrunde richtet. Das war das erste Gefühl, aus dem alles Weitere entstanden ist. Und ich glaube, das ist ein richtiges Gefühl. Es ist etwas, was wir immer noch sehen.

Und trotzdem sind Dogmen daraus entstanden, die heute ganz überwiegend als gescheitert betrachtet werden.

Was die Menschen aus Marx gemacht haben, ist ja nicht seine Schuld. Die Nationalsozialisten haben zum Beispiel Nietzsche für sich beansprucht, obwohl der nie etwas mit denen zu tun hatte. Genauso haben es die Russen mit Marx gemacht.

Sie sehen Marx also vor allem positiv?

Zumindest sollte ein Schauspieler immer versuchen, herauszufinden, was das Gute und Interessante an einer Person ist, die man spielt. Als ich in der Vorbereitung sehr viel von Karl Marx gelesen habe, ist mir aufgefallen, wie genau er hingesehen und formuliert hat. Was er gedacht und geschrieben hat, passt auch heute noch. Er war jemand, der den Kapitalismus so genau durchschaut, gekannt und deswegen teilweise fast verehrt hat, wie kaum ein anderer. Für ihn war der Kapitalismus eines der cleversten, sich selbst generierenden Systeme, die es überhaupt gibt. Er hat vorausgesagt, dass dieses System erst ins Straucheln geraten wird, wenn die Rohstoffe der Erde irgendwann einmal wahrscheinlich verbraucht sind. Heute wissen wir, wie richtig er mit dieser Prognose lag.

Trotzdem beherzigen wir diese Prognose bis heute nur widerstrebend.

Das stimmt. Aber spätestens seit 2008 (dem Beginn der Finanzkrise; Anm. d. Red.) haben viele das Gefühl, dass mit unserem System nicht alles stimmt, sondern dass von ihm auch Gefahr ausgeht. Und wir haben ähnlich wie in der Zeit von Marx das Gefühl, dass wir in einer Zeitenwende leben. Dass sich gerade etwas verändert. Wir wissen nicht genau, in welche Richtung das gehen wird, aber wir spüren, dass etwas wackelt.

Wobei dieses Wackeln nicht nur ökonomische Hintergründe hat. Viele Menschen flüchten nicht vor Armut, sondern vor fundamentalistischen Terrormilizen.

Trotzdem sehe ich Parallelen zu der Zeit, in der Marx lebte. Die Industrielle Revolution führte damals zur Verarmung breiter Bevölkerungsschichten in Europa, und deswegen hat Marx versucht, etwas zu finden, was menschlicher und gerechter ist. Heute sind die Güter global absolut ungerecht verteilt, und das ist eine der maßgeblichen Ursachen für die Flüchtlingsbewegungen. Es stimmt etwas nicht, wenn ein einzelner Mensch im Westen täglich so viel Energie verbraucht wie eine fünfköpfige Familie in Indien in einem Monat. Das kann nicht so bleiben, und das wird Weiteres provozieren, was wir noch gar nicht im Blick haben.

Was zur Systemfrage führt: Auch im Westen sind Einkommen und Vermögen zunehmend ungleich verteilt. Dennoch werden die wenigsten den Marxismus wiederbeleben wollen.

Was wir Marxismus nennen, wollte auch Marx nicht. Er hatte den "Kommunismus" im Sinn, von dem er damals gesagt hat, dass er auf große Reiche ausgedehnt keinen Sinn ergibt. Aus seiner Sicht konnte das Konzept nur in kleinen Gruppen funktionieren. Wie der Name schon sagt, in dem ja der Begriff "Kommune" steckt. Den Kommunismus, so wie Marx ihn wollte, hat es kaum gegeben. Vielleicht kurz zu Zeiten der Pariser Kommune 1871, ein bisschen bei den Bauern in Italien und vielleicht in den Anfangszeiten des heutigen Kuba.

Doch auch die kubanische Planwirtschaft schaffte es nie, die Bedürfnisse der Menschen so effizient zu decken, wie es dem Markt mit seinem Preismechanismus gelingt. Deswegen hat das Land inzwischen sogar kleine marktwirtschaftliche Reformen unternommen.

Das lässt sich nicht abstreiten. Ich bin übrigens auch kein Kommunist oder Marxist. Und auch wenn ich den Urinstinkt habe, jede Rolle, die ich spiele, bis aufs Blut zu verteidigen, dann sehe ich natürlich, dass Marx vermutlich ganz viele Aspekte des menschlichen Daseins nicht erkannt hat.

Welche denn?

Der Mensch ist zum Beispiel nicht in erster Linie das produzierende Wesen, als das er ihn betrachtet hat. Wir haben den Hang zum Müßiggängertum, die Neigung, unnütze Dinge zu tun. Alles Künstlerische hatte in der Welt von Marx keinen Platz. Es gibt in Dostojewskis Roman "Die Dämonen" dieses wunderbare Kapitel über die ersten Bolschewisten, die am Tisch sitzen und stundenlang darüber diskutieren, was eigentlich mehr wert ist: ein gemalter Apfel von Michelangelo oder ein echter Apfel. Sie argumentieren: 'Sobald der Hunger kommt, ist alle Kunst und jeder Michelangelo nichts wert, dann brauchen wir den echten Apfel.' Trotzdem gibt es Leute, die sagen, die Idee des Apfels ist etwas Wichtigeres und Schöneres als ein echter Apfel.

Zumindest ist die Idee des Apfels etwas Anhaltenderes und Universelleres als der Apfel selbst.

Genauso ist es mit der Freude, die es bereitet, Feste zu feiern. Die spielte bei Marx auch keine Rolle. Übrigens sind das alles Sachen, die klassenübergreifend sind. Menschen jeder Klasse feiern, ziehen sich festlich an - und zwar nicht, weil ihnen etwa kalt ist - oder tauschen Geschenke aus. All diese Wesenszüge des Menschen, ebenso wie das Spirituelle hatten in der Marx'schen Sicht auf den Menschen keinen Platz. Das ist sicher auch ein Grund, warum der Sozialismus kollabiert ist.

Dabei war Marx ja selbst ein Müßiggänger.

Stimmt. Das ist mir fast sympathisch: Der beste Kenner des Kapitalismus hatte sein Leben lang Geldprobleme. Es gibt so viele Ungereimtheiten bei Marx. Und genau die machen ihn zu einem Menschen.

Marx lebte zu Zeiten der Industriellen Revolution, wir im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung. Auch wir müssen neue Antworten finden, wie wir unsere Arbeitswelt organisieren. Doch wir glauben viel weniger daran, etwas verändern zu können, als der Marx, den Sie im Film zeigen.

Wir haben sehr stark verinnerlicht, dass das Establishment unzerstörbar ist. Doch erst durch diese Haltung erscheint es so, als sei dies ein Fakt. Auch im 19. Jahrhundert dachten viele Menschen, das Großbürgertum sei unumstößlich. Marx entlarvte das: "Dass die Dinge immer so bleiben, wie sie sind, das ist ein Satz der Bourgeoisie", sagt er in einer Rede im Film. Für Marx war das etwas, was das Kapital die Menschen glauben machen wollte. Und es ist tatsächlich Unsinn. Alles bewegt sich, das beweist die Geschichte, alles ist veränderbar - immer und überall.

Spätestens dann, wenn die natürlichen Resourcen vollständig verbraucht sind, wird sich etwas ändern müssen. Doch haben Sie nicht erhebliche Zweifel, ob die Menschen sich ändern können, bevor es zu spät ist?

Dazu muss es auch erst einmal ein "Wir" geben. Das Wir-Gefühl, das wir heute haben, ist ein anderes als in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts oder zu der Zeit von Karl Marx. Wer ist das eigentlich: "Wir"? Und wer sind überhaupt "Die"? Das verschwimmt komplett.

Die beiden großen Volksparteien sind sich immer ähnlicher geworden, das stimmt. Aber hat nicht genau deswegen der rechte Rand ein "Wir" mobilisieren können?

Das schon. Doch wenn alles weiterhin katastrophal läuft und Rechtspopulisten wie Trump und in Frankreich womöglich Le Pen immer mehr Widerstand herausfordern, ist meine geheime Hoffnung, dass vielleicht das "Wir"-Gefühl der richtigen Leute wieder entsteht. In Amerika scheint es so zu sein. Da demonstrieren die Menschen so stark wie seit Vietnam nicht mehr. Wenn es ganz schlimm kommt, ist es auf einmal wieder ganz einfach zu sagen, auf welcher Hochzeit wir tanzen.

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