Süddeutsche Zeitung

Aufzeichnungen zum Nahostkonflikt:"Keine Unterwäsche für Kindermörder!"

Alltag im Ausnahmezustand: Die Schriftstellerin Sarah Stricker sammelt Unterhosen für Soldaten, gerät in eine Großdemo und macht Yoga auf dem Dach. Ein Kriegstagebuch aus Israel.

Von Sarah Stricker, Tel Aviv

Seit Beginn des Krieges in Gaza führt die deutsche, in Tel Aviv lebende Schriftstellerin Sarah Stricker ein Kriegstagebuch und schickt uns wöchentlich ihre Texte. In dieser Ausgabe drucken wir die dritte Folge.

Freitag, 25. Juli

E. schickt eine SMS: "Was hältst du davon, die Sicherheit Israels mit einem Pack Unterhosen zu unterstützen?"

Einige meiner Freunde haben einen Stand in einem Einkaufszentrum aufgebaut und sammeln Sachspenden für die Soldaten: Kaffee, Insektenspray, Handyladegeräte, vor allem aber Unterhosen, "oder glaubst du nicht, dass du dich nach drei Wochen im Dreck über ein frisches Paar freuen würdest?", sagt E.

Ein Mädchen fragt, ob sie vielleicht auch einen Brief schreiben könne. E. gibt ihr Stift und Papier.

"Ihr seid die Größten!", malt sie in großen Buchstaben quer über die Seite, "haltet durch, wir denken an euch!" Ein Mann bringt selbst gebackene Kekse. "Mein Jüngster ist auch da unten", ruft eine mit Einkaufstüten beladene Frau, "ihr glaubt gar nicht, wie gut es tut, zu sehen, dass so viele hinter ihm stehen." Sie leert den Inhalt der Tüten in die Kiste, drückt E. einen Kuss auf die Wange. Vor Aufregung oder vielleicht auch nur vor Anstrengung zittern ihre Finger. Das Mädchen läuft los und kauft ihr eine Flasche Wasser.

Der Krieg macht die Menschen freundlicher.

L. postet auf Facebook: "War heute mit meiner Tochter auf dem Spielplatz, als der Alarm losging. Zum nächsten Bunker war es zu weit. Der einzige Ort, an dem wir uns in Sicherheit bringen konnten, war das Rutschbahnhäuschen. Ein furchtbares Gefühl, zu wissen, dass man sein eigenes Kind nicht schützen kann. Mein Herz schmerzt, wenn ich an die Mütter und Väter in Gaza denke, die das jeden Tag durchmachen und nicht mal einen Bunker haben, in den sie sich flüchten könnten."

Die Antworten lassen nicht lange auf sich warten. "Wie kannst du so was sagen? Das sind dieselben Eltern, die die Hamas gewählt haben!" "Von wegen keinen Bunker! Hast du die Tunnel gesehen? Da könnte sich ganz Gaza drin verstecken!" "Mit denen hast du Mitleid? Was ist denn mit Müttern und Vätern hier? Warum weinst du nicht um deren Kinder?"

Eine Userin versucht L. zu verteidigen: "Das Leiden der Palästinenser anzuerkennen, heißt doch nicht, dass man das Leiden der Israelis ignoriert. Können wir nicht um die Menschen auf beiden Seiten weinen?"

"Nein können wir nicht. Nicht solange deren Seite unsere auslöschen will!", schreibt eine Frau zurück.

Der Krieg macht die Menschen kälter.

Samstag, 26. Juli

Waffenruhe. Wir machen ein Picknick im Park. T. bringt ein Pärchen aus Ashkelon mit, das nach Wochen des Raketenbeschusses im Stundentakt eine Verschnaufpause brauchte. Übers Wochenende schlafen sie auf T.'s Couch, aber die Frau sagt, sie mache trotzdem kaum ein Auge zu, weil sie bei jedem vorbeifahrenden Motorrad hochschreckt. "Phantomalarm", sagt sie und versucht zu lachen. Ihr Mann legt den Arm um sie. B. sagt, wenn es ihnen auf T.s Couch zu eng werde, könnten sie auch gerne ein paar Tage bei ihm wohnen.

Der Krieg lässt die Menschen näher zusammenrücken.

Großdemo am Rabin-Platz. Tausende Linke auf der einen Seite, Hunderte Rechte auf der anderen. "Stop the war! Keine Toten in meinem Namen!" hier. "Stop the Hamas! Tod den Verrätern!" da.

N. und ich kämpfen uns durch die Menge, bleiben im Gedränge der Kriegsgegner stecken.

"Hey, hab ich dich nicht gestern im Einkaufszentrum gesehen?", ruft plötzlich eine junge Frau, "du bist doch die, die die ganzen Unterhosen gespendet hat, oder?" Sie reißt die Faust in die Höhe. "Soldaten töten Kinder", brüllt sie über den Platz, "keine Unterwäsche für Kindermörder!"

Die rechten Demonstranten werfen Flaschen, einige versuchen die Absperrungen niederzureißen. N. zieht mich weg, während von rechts und links die Polizei angestürmt kommt und versucht, die beiden Gruppen auseinander zu halten.

Der Krieg lässt sie Menschen auseinanderdriften.

Sonntag, 27. Juli

Wieder ist mein Postfach voll mit Nachrichten von Menschen, die das Tagebuch gelesen haben.

K. schreibt: Endlich sagt mal jemand, dass dieser Krieg rechtens ist. Israel muss sich verteidigen dürfen.

P. schreibt: Endlich sagt mal jemand, dass dieser Krieg ein furchtbares Unrecht ist. Israel kann doch nicht ein ganzes Volk bestrafen.

S. schreibt: Dein Tagebuch hat mich nachdenklich gemacht. Wie können die Menschen in Nahost nur so engstirnig sein? Ich habe den Eindruck, jeder will nur die Wahrheit sehen, die ihm genehm ist.

Ich treffe mich mit einer deutschen Freundin, die gerade auf Israel-Besuch ist. Sie erzählt, dass sie am Vortag bei arabischen Bekannten zum "Iftar" eingeladen war.

"Zum was?"

Meine Freundin verdreht die Augen. "Zum Fastenbrechen." Sie schüttelt den Kopf. "Ach Sarah, du bist schon die Dritte, der ich das erzählte und kein einziger hier kennt dieses Wort. Die Araber machen ein Fünftel der Bevölkerung in diesem Land aus. Wie kann es denn sein, dass ihr nicht mal die elementarsten Dinge über ihr Leben wisst?"

Ich nicke beschämt.

Vielleicht sind die Menschen schon lange auseinander gedriftet.

Montag, 28. Juli

Wieder sind zwei Tage vergangen, ohne dass wir von R. gehört haben. Mein Freund ruft ihn an. Er bekommt nur die Mailbox.

B. sagt: Die Armee nimmt den Soldaten die Handys weg, bevor sie sie nach Gaza schickt, damit die Hamas sie nicht tracken kann. Wenn das Telefon aus ist, ist er wahrscheinlich drin. T. sagt: Mein Gott, die sind da quasi in der Wüste! Vielleicht hat er einfach nicht rund um die Uhr eine Steckdose in der Nähe, um seinen Akku zu laden.

Mittagessen bei der Großmutter meines Freundes. Sie hat eine alte Schuhschachtel mit Fotos gefunden. Schulausflüge, Theateraufführungen, dann plötzlich ein Bild von einem Haufen Teenager, vielleicht sind es auch noch Kinder, das ist schwer zu sagen, denn auf dem Kopf tragen sie alle Gasmasken. Über der Tür hängt eine Papiergirlande.

"Wow erinnerst du noch daran?", ruft mein Freund, "das war doch Mayas Geburtstag! Da guck, das bin ich."

Er deutet auf einen Jungen im Eck. Seine Finger formen ein Peace-Zeichen.

"Ihr hattet Geburtstagspartys mit Gasmasken?", frage ich.

Mein Freund zuckt mit den Schultern "Wir konnten ja nicht den ganzen Golfkrieg über zu Hause rumsitzen." Ein Hauch von Nostalgie weht über sein Gesicht, während er sich zu erinnern versucht. Wer in wen verliebt war. Wer wem gerade böse. Welcher Junge diese Maya noch mal überredet hatte, ihm wenigstens kurz ihren BH zu zeigen, weil sie sich ja schwerlich küssen konnten.

Ich denke an meine eigenen Kindheitserinnerungen.

Mir kommen mal wieder die Tränen.

Wir gehen gegen Mitternacht ins Bett, schlafen beide - als um halb drei die Sirene losheult. Ich brauche einen Moment, bis ich merke, dass der Alarm nicht Teil meines Traums ist, rüttle meinen Freund wach. Als wir im Treppenhaus ankommen, knallt es schon über uns. Das BunkerBunkerBunker-Baby der Nachbarin kreischt wie am Spieß.

"Und ich hatte gerade wieder angefangen, nackt zu schlafen", sagt mein Freund.

Ich frage mich, warum ich in diesem Krieg eigentlich ständig über Unterwäsche schreibe.

Er geht zurück ins Bett, zieht sich die Decke über den Kopf. "Weck mich, wenn's weitergeht", sagt er und schläft sofort wieder ein.

Der Krieg macht die Menschen apathischer.

Dienstag, 29. Juli

Ich gehe mit Freunden die Straße entlang. Außer mir ist noch ein weiterer Ausländer dabei, wir sprechen Englisch. Einer stellt die Frage, ob sich das alles vielleicht hätte vermeiden lassen, wenn Israel die Entführung der drei Jungs im Westjordanland nicht ausgenutzt hätte, um den Großteil der im Gilad-Shalit-Deal freigelassenen Terroristen wieder festzunehmen.

"Was heißt hier ausgenutzt?", fragt einer der Israelis, "wir haben doch nur die verhaftet, die gegen ihre Bewährungsauflagen verstoßen haben."

"Ach ja?", frage ich, "Auflagen wie zum Beispiel, keine Hamas-Mitglieder zu treffen? Also komm, als ließe sich das in einer Stadt wie Hebron vermeiden?"

Plötzlich fährt ein junger Mann vor uns herum.

"So you think the Hamas is great?", schreit er mir ins Gesicht.

"Äh, nein, natürlich nicht", sage ich auf Hebräisch.

"Ach, du sprichst die Sprache. Lebst du hier? Wie kannst du denn dann die Hamas verteidigen?"

"Das tue ich doch gar nicht", murmele ich perplex.

"Fuck you!", ruft er und stapft davon.

Der Krieg macht die Menschen aggressiver.

Mittwoch, 28. Juli

Ein Reporter bittet um ein Interview.

"Keine Angst", sagt er, "wir zwingen Sie auch nicht, schlecht über Israel zu reden. Nicht, dass Sie Probleme bekommen."

Ich hätte gar nicht das Bedürfnis, schlecht über Israel zu reden.

"Ja, ja, schon verstanden", sagt er und lacht verschwörerisch. "Wir wollen ja nicht, dass am Ende der Mossad bei Ihnen vor der Tür steht, was?"

Ich werde auch aggressiver.

Besuch bei meiner Ersatzoma Gabi.

Wie sie das alles denn wegstecke, frage ich, ich könne sie in diesen Tagen auch gerne ein bisschen öfter besuchen.

"Nix da Schätzchen, schreib du mal deine Bücher weiter", sagt sie. "Das ist jetzt mein achter oder neunter Krieg hier, nicht zu vergessen der 2. Weltkrieg davor. Das ist doch gar nichts. Die Leute machen nur mal wieder, wie sagt ihr Deutschen, 'aus einem Moskito einen Elefanten'."

Donnerstag, 31. Juli

R. meldet sich endlich wieder. "Alles in Ordnung", schreibt er. Mehr nicht. Dafür schickt ein Fotos von einem Panzer, der über und über mit Briefen behängt ist.

Yoga auf dem Dach. Wir liegen ausgestreckt auf unseren Matten, sollen versuchen, unseren Geist zu leeren. Aber bevor wie das tun, möchte uns unsere Yoga-Lehrerin noch einen Gedanken mitgeben, "in Anbetracht der Lage.":

Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben; nur Licht kann das. Hass kann Hass nicht vertreiben; nur Liebe kann das.

Der junge Mann neben mir stößt so laut die Luft aus, dass ich große Zweifel daran habe, dass er sich nur an der Ujjayi-Atmung versucht. Aber auch ich finde diese Aussage ziemlich albern. Ich finde sie abgedroschen. Ich finde sie ein bisschen anmaßend. Und dann finde ich sie ärgerlich. Was soll das denn eigentlich heißen? Wieso Hass? Wer hier auf diesem Dach hasst denn bitte die Palästinenser? Die Menschen wollen doch nur in Ruhe leben, ohne dass man sie mit Raketen beschießt. Und überhaupt, wie stellt sie sich das mit dem Licht denn vor? Soll die Armee die Hamas mit einer riesigen Welle der Liebe in die Knie zwingen?

Ich merke, wie sich all die eben erst gelockerten Muskeln in mir wieder zusammenkrampfen.

Und das finde ich erst recht albern. Wie kann man sich denn so über ein bisschen Glückskeksweisheit aufregen?

Ich bemühe mich, langsamer zu atmen, denke mir, dass ich vielleicht auch aus einer Mücke einen Elefanten mache. Ich rolle meine Matte zusammen, nehme mir vor, mich nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit angegriffen zu fühlen.

Und dann trete ich auf die Straße und werde mal wieder tatsächlich angegriffen.

Freitag, 1. August

Heute ist R.s Geburtstag. Wir schreiben ein Plakat für ihn, "Masseltov! Happy birthday! Alles Gute zum Geburtstag!", fotografieren uns damit und smsen ihm die Bilder. Diesmal antwortet er sofort: "Gute Nachrichten: Kann sein, dass ich am Samstag kurz heimkomme."

Ich laufe zum Supermarkt und kaufe ein wie eine Wilde: Bier, Chips, Luftballons.

Meine Freundin A. aus Deutschland ruft an. "Du organisierst eine Party?", fragt sie, während ich den Wagen zur Kasse schiebe, "ich blick echt nicht mehr durch. Wenn man die Nachrichten sieht, hat man den Eindruck, bei euch tobe der Krieg. Und dann red ich mit dir, und es klingt, als ginge der Alltag einfach so weiter. Was stimmt denn nun?"

"Beides", sage ich.

"Der Krieg ist jetzt Alltag."

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Quelle:
SZ vom 02.08.2014/tgl
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