Max-Frisch-Jahr 2011:Die Macht der Liebe und der Untreue

Auftakt zum Max-Frisch-Jahr 2011: Zum 100. Geburtstag erscheinen zwei neue Biographien. Die eine liest sich wie eine Proseminararbeit - die andere wie das Werk eines Schlachters.

H. Böttiger

Die Frischiana häufen sich. 2011 wäre der große Eidgenosse 100 Jahre alt geworden, und bereits in diesem Herbst erschienen drei Titel, die das große Max-Frisch-Rennen in der Pole-Position beginnen wollen, zwei Biographien und eine exquisite Neuauflage. Die Reihe "Kollektion" bei Nagel&Kimche versammelt entlegene Perlen der Schweizer Literaturgeschichte. Man mag darüber streiten, ob Frischs 1943 erschienener Roman "J'adore ce qui me brûle" tatsächlich dazugehört. Immerhin, nach den schwülstigen Phantasien seiner beiden ersten Bücher wagt er sich hier ein bisschen mehr ins Offene. Die Sprache ist immer noch voller Klischees und Pathoskitsch, aber es drängen sich auch schon kleine soziale Überlegungen vor. Für Frisch-Fans ist das eine desillusionierende, aber auch erhellende Fundgrube, man gerät an bereits verfaulte und abgestorbene, aber immerhin existierende Wurzeln.

Max Frisch mit Pfeife

Frisch-Fans resultieren meist aus der Erfahrung, in der elften Klasse eines Gymnasiums "Homo faber" gelesen zu haben: Es vibriert vor Schicksal und Sexualität. Es ist anzunehmen, dass die beiden Frisch-Biographen dieses Herbstes auch im betreffenden Alter von diesem Autor erwischt worden sind.

(Foto: AP)

Frisch-Fans resultieren meist aus der Erfahrung, in der elften Klasse eines Gymnasiums "Homo faber" gelesen zu haben. Seit einigen Jahrzehnten berichten Deutschlehrer unisono von einem seltenen Erlebnis: Mit Homo faber haben sie die 17-Jährigen beiderlei Geschlechts vollkommen in der Hand. Der Roman ist ein einziger Tafelanschrieb: Mann gegen Frau, Technik gegen Natur, genaueste Berechnungen gegen wuchernde Dschungel-Vegetation, alles geht restlos auf. Und wenn sämtliche, fein säuberlich über den ganzen Roman verstreute Gegensätze erkannt worden sind, bleibt unterm Strich ein großes Gefühl übrig: Es vibriert vor Schicksal und Sexualität.

Es ist anzunehmen, dass die beiden Frisch-Biographen dieses Herbstes auch im betreffenden Alter von diesem Autor erwischt worden sind. Sie gehen mit diesem Pfund aber äußerst unterschiedlich um. Volker Weidermann agiert eher hemdsärmelig, greift zu einer großkarierten Schürze und nähert sich seinem Gegenstand wie ein Schlachter: Systematisch wird an den Knochen entlanggeschnitten und das entscheidende Stück freigelegt. Hinderliche, zähe und faserige Bestandteile, Eingeweide und Innereien werden schnell beiseitegeworfen. Mit solch schwierigen Materien, die eine besonders aufwendige und differenzierte Behandlung erfordern, braucht man sich erst gar nicht zu beschäftigen. Was zählt, sind die sauber portionierbaren und handlich zuschneidbaren Fleischteile. Sie werden ordentlich herausgesäbelt und zurechtgelegt, Schnitzel für Schnitzel fertiggemacht für die Plastikfolie bei Aldi.

Auch die Sprache Weidermanns entstammt den Discountern. Zu "Homo faber" schreibt er: "Ein umstürzlerisches Buch. Weil es an den Kern des Lebens rührt. Weil es lebendig ist." Zu Stiller: "ein Hammer". Zum Tagebuch: "Frisch urteilt nicht. Frisch schaut und schaut und staunt und schreibt." Viel analytischer wird es nie. Es geht vor allem um das unbedingte Präsens, um kurze, stakkatohafte Sätze, die etwas Ranschmeißerisches haben. Mit literarischer Emphase hat das alles nicht viel zu tun. Es handelt sich um den Hochglanzstil der Magazine, wo man mit jedem Satz einen Effekt erzeugen will. Der Leser soll dranbleiben.

Der Charakter eines schriftlichen Textes tritt zunehmend hinter einer Art transkribierter mündlicher Rede zurück: "Was für ein Brief! 'Ich glaube an die Macht der Liebe und der Untreue.' Hm. So etwas möchte man doch als Freundin, als Geliebte gerne lesen." Das rhetorische eingesetzte "Hm" kennzeichnet die Aussage des ganzen Buches in zwei Buchstaben.

Viele Zeitzeugen haben bereits berichtet, dass Frisch ein ziemliches Ekel sein konnte. Weidermann beschreibt das in den ersten Kapiteln suggestiv: den Egoismus, die fehlende Sensibilität für andere, den Größenwahn. Er zitiert, das ist ein sehr gut gesetzter Akzent, aus dem Frisch-Buch Urs Birchers einen chauvinistischen, antisemitischen Brief Frischs aus dem Jahr 1938 und hebt solche Prägungen seines Autors durchaus hervor.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie der alternde Frisch auf eine junge Frau traf.

Schicksal und Sexualität

Erstaunlich ist dann aber, wie er die abrupte Wende zum großen Erfolg behandelt. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs schreibt Frisch noch ein völlig unpolitisches Theaterstück, drei Monate später aber "Nun singen sie wieder". Und das ist ein ganz anderer, bis dato bei ihm überhaupt nicht vorstellbarer Ton: ein zeitpolitischer Stoff, eine scharf akzentuierte Sprache. Was da genau passierte, erfahren wir in dieser Biographie jedoch nicht. Hier würde man, dem Sujet entsprechend, etwas eingehendere Reflexionen erwarten, eine psychologische Studie, den Versuch einer Erklärung. Der Biograph stellt aber bloß fest: "Es ist, als habe jemand ein Fernrohr neu justiert."

Innerhalb kurzer Zeit wird Frisch berühmt, und der unsympathische, zu selbstgewisse Jüngling ist plötzlich vergessen. Weidermann berauscht sich an den Texten: "Ein Roman in Bewegung, wahnsinnig gut geschrieben" ("Stiller"). Dass die Person Frischs sich aber gar nicht so schnell verändert, bleibt außer Betracht: zum Beispiel auch der entsetzliche Brief, den er 1958 an Paul Celan geschrieben hat und in dem er sich auf selten exemplarische Weise entlarvt. Auch das Verhältnis Frischs zu Ingeborg Bachmann, ein zentrales Trauma bis zu seinem Tod, wird eher summarisch und lustlos abgehandelt ("Anziehung und Abstoßung waren bei diesem Paar gigantisch").

Zitatnachweise gibt es keine, das Literaturverzeichnis ist dürftig. Und zeitgeschichtliche Einschätzungen sind zuweilen mehr als fahrlässig. Über die literarische Situation direkt nach 1945 schreibt Weidermann: "In Deutschland beansprucht eine neue Generation allen Raum für sich. Rückkehrwillige Emigranten sind nicht willkommen, im Land gebliebene Schriftsteller politisch verdächtig. Man nutzt die Situation, so radikal neu zu beginnen wie nie zuvor." Da ist der Autor seinen 68er-Lehrern und den Exegeten der Gruppe 47 doch zu sehr auf den Leim gegangen. Dass die 50- bis 70-jährigen "inneren Emigranten" keineswegs "politisch verdächtig" waren, sondern noch bis Mitte der 50er Jahre die literarischen Institutionen und wichtigsten Medien dominierten, scheint ihm nicht bewusst zu sein.

Eine wunderbare literarische Fiktion

Eine schöne Passage allerdings fällt aus diesem Buch heraus. Weidermann hat Alice Carey, die junge, ominöse "Lynn" aus Frischs "Montauk" von 1974, im März 2010 getroffen und ist mit ihr noch einmal nach Montauk gefahren. Das ist eine wunderbare literarische Fiktion: Die mittlerweile über 60-Jährige und der junge Mann verkehren die ursprüngliche Konstellation, als der alternde Frisch auf die junge Frau traf. In diesem Abschnitt wird der Ton des Buches auch nachdenklicher, und der Autor nimmt sich etwas zurück. Er hat Alice-Lynn am Meer fotografiert und konfrontiert dieses Foto mit einem früheren just aus dem Jahr 1974, dem Frisch-Montauk-Jahr, Lynn am Strand in engen Jeans und flüchtigem Schwarz-Weiß. Hier ist etwas enthalten, was man sich vom gesamten Buch gewünscht hätte.

Ingeborg Gleichauf hat in der Schule ebenfalls Max Frisch als Klassensatz gehabt, und das merkt man ihrem Buch in ganz anderer Weise an. Die Erörterung hat sich unmerklich in eine Proseminararbeit weiterentwickelt, eine, die weniger um neue Erkenntnisse als um die Sicherung der zentralen Quellen bemüht ist. Wenn es spannend wird, hört Gleichauf auf. Als Frisch Bachmann kennenlernt, ist das "der Beginn einer rätselhaften Liebesgeschichte, der man nicht zu sehr auf den Leib rücken sollte, sonst steht man schließlich mit leeren Händen da".

Wo Weidermann zu nassforsch ist, ist Gleichauf zu bieder. Aber das Frisch-Jahr hat ja noch gar nicht angefangen. Die nächsten Biographen und Jubiläumstexter stehen bereits an der Rampe und sperren den Mund schon auf. Bald singen sie wieder.

MAX FRISCH: Die Schwierigen oder J'adore ce qui me brûle. Roman. Mit einem Nachwort von Lukas Bärfuss. Verlag Nagel &Kimche, Zürich 2010. 283 Seiten, 19,90 Euro.

VOLKER WEIDERMANN: Max Frisch - Sein Leben, seine Bücher. Kiepenheuer &Witsch, Köln 2010. 407 S., 22,95 Euro.

INGEBORG GLEICHAUF: Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch - eine Biografie. Verlag Nagel &Kimche, Zürich 2010. 271 Seiten, 18,90 Euro.

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