Auftakt:Volles Programm

Der neue Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, Valery Gergiev, inszeniert Gustav Mahler als großes Instrumentaltheater

Von Harald Eggebrecht

Etwas Besonderes lag in der Luft. Schon vor dem Konzert vibrierte das Foyer der Philharmonie am Gasteig vor Erwartungsspannung, so als ob man den Star des Abends noch nicht kennte. Dabei steht Valery Gergiev seit einigen Jahren geradezu regelmäßig in München am Pult vor allem seines Mariinski-Orchesters, doch auch bei den Philharmonikern. Aber es ist etwas anderes, als Gastdirigent aufzutreten oder auf einer Orchestertournee hier Station zu machen; oder eben wie jetzt das hochrenommierte Amt des Chefdirigenten der Philharmoniker anzutreten und damit die künstlerische Verantwortung für die Qualität, den Rang und den Ruf dieses "Weltorchesters" (Sergiu Celibidache) für die nächsten fünf Jahre zu übernehmen. Also flirrte das Publikum in neugieriger Unruhe ganz im Sinne Hermann Hesses: "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne."

Der Bedeutung des Abends angemessen waren das Fernsehen da (die Aufzeichnung des Konzerts wird an diesem Samstagabend auf 3sat ausgestrahlt) und die Wichtigen aus Stadtrat und Gesellschaft, darunter der russische Generalkonsul in München und überraschend auch Alt-OB Christian Ude, dem bisher wohl kaum jemand ein allzu großes Faible für Klassik nachsagen konnte. Das Podium bot einen einschüchternd imponierenden Anblick mit dem riesigen Chor und der vollen Orchesterbesetzung, dazu zwei Harfen und zwei Paukensets, Glocken und dem darüber blau schimmernden Orgelprospekt. Gustav Mahler hat im letzten Satz seiner zweiten Symphonie, der sogenannten Auferstehungs-Symphonie an nichts gespart und gewissermaßen das volle Programm gefordert. So kann der neue General all seine Truppen vom Organisten bis zur Piccoloflöte wunderbar vorführen und sogar noch ein unsichtbares Fernorchester befehligen.

Riesiger Chor, volles Orchester, zwei Paukensets, zwei Harfen - Auferstehung in Cinemascope

Bevor Valery Gergiev das Podium betrat, sprach der Münchner Kulturreferent Hans-Georg Küppers einige Grußworte anstelle von Oberbürgermeister Reiter, der mit dringenderen Aufgaben beschäftigt sei, Stichwort Flüchtlinge. Dass Valery Gergievs Zweifel, in einem Interview mit BR-Klassik geäußert, ob hinter der plötzlich so riesigen Flüchtlingswelle nicht gar ein "diabolischer Plan" stecke, sehr befremdet, ist klar (siehe Lokalteil). Doch wie Hans-Georg Küppers verkündete, haben die Philharmoniker, die sich auch privat vielfältig engagiert hätten, eben dieses Antrittskonzert ihres neuen Chefs den Flüchtlingen gewidmet!

Die insgesamt beeindruckend dramatische, aber auch in ihren lyrischen Passagen und träumerischen Idyllen, etwa im zweiten Satz, wunderbar verständlich ausformulierte Aufführung zeigte übrigens wieder einmal, welche Qualitäten der Gasteigsaal gerade bei großen Besetzungen hat. Mahlers Symphonien sind ja nicht nur riesige Lebensromane in Musik, sondern auch grandiose Raumereignisse: ",Symphonie' heißt bei mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine ,Welt' aufbauen." Dazu gehört entschieden der Raum.

Der ausgedehnte Kopfsatz, den Mahler ja eine Weile als symphonische Dichtung verstehen wollte, beginnt mit einer Eruption der tiefen Streicher, die sich hier geradezu wüst entlud und gleich den aufregenden und aufgeregten Charakter des ganzen Abends zeigte, an dem gewiss nicht alles perfekt glückte. Aber das ändert nichts an der staunenswerten Vielgestaltigkeit der Mahlerschen Fantasie, die Gergiev und seine Musiker bezwingend vorführten, nichts an der fesselnden Hingabe und der fordernden Intensität des Dirigenten, mit der er ausphrasierte und ausbalancierte, die Steigerungen bis zu den in dieser Symphonie unvermeidlichen ohrenbetäubenden Fortissimo-Zusammenbrüchen grandios aufbaute und in riesigen Abschwungbögen bis zur völligen Erschöpfung und zum Verstummen gestaltete.

Brausender Beifall, Blumen aus dem Publikum und vom Orchestervorstand

Gergiev dirigierte unbedingt der Sache dienend. Die Ländler-Polyphonie des zweiten Satzes entstand frei von Kitschigkeiten als wundersam ineinander verschränkte Tanzidylle, in der es gleichwohl nicht nur "sehr gemächlich", so Mahlers Angabe, zugeht, sondern in der jene das ganze Werk durchziehende Nervosität, Dünnhäutigkeit und Bedrohlichkeit ebenfalls wirken und irritieren. Dass ein Musiker, der wie Gergiev an den Ironien, Bitterscherzen und Sarkasmen von Dmitri Schostakowitsch oder Sergei Prokofjew geschult ist, den dritten Satz in all seiner karikaturistischen Schärfe auszuleuchten weiß, versteht sich fast von selbst.

Es gibt zwei magische, oftmals Schauer auslösende Momente in diesem Werk: Wenn der Mezzosopran mit dem "Urlicht" beginnt, und wenn am Ende der Chor a cappella "Auferstehen" in dreifachem Pianissimo flüstert und so zur Schlusskantate anhebt. Während der Philharmonische Chor (Einstudierung Andreas Herrmann) einen den Atem anhalten ließ, gelang es Olga Borodina zuvor im "Urlicht"-Satz nicht ganz, jene Magie des "O Röschen roth" zu beschwören. Vielleicht hätte sie wie die Sopranistin Anne Schwanewilms auch besser direkt vor dem Chor gestanden. Denn beide Solostimmen sind, abgesehen vom "Urlicht", sehr in den Chorprozess eingewebt. So, vorne neben dem Dirigenten platziert, wirkten sie etwas weitab vom Geschehen. Herrlich sanft und doch opulent jedenfalls blühte das philharmonische Blech, feurig agierten die Holzbläser- und Streichersolisten, die Pauker und Schlagzeuger glänzten in Präzision vom leisesten Rascheln bis hin zu den infernalischen Klanggewittern der Pauken, Glocken, großer und kleiner Trommel. Und von weither ertönten die Aufrufe, Appelle und Schmettereien des Fernorchesters. Brausender Beifall, Blumen aus dem Publikum und vom Orchestervorstand an Maestro Valery Gergiev für einen denkwürdigen Einstand.

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