Aufschlussreicher Briefwechsel:Erkenntnisse unter Besiegten

Aufschlussreicher Briefwechsel: Carl Schmitt (links) war immer gut vernetzt. Reinhart Koselleck wurde mit seiner Dissertation „Kritik und Krise“ berühmt.

Carl Schmitt (links) war immer gut vernetzt. Reinhart Koselleck wurde mit seiner Dissertation „Kritik und Krise“ berühmt.

(Foto: Carl-Schmitt-Gesellschaft; Erbengemeinschaft Koselleck)

Was lernte der große Historiker Reinhart Koselleck von Carl Schmitt, dem einstigen "Kronjuristen des Dritten Reiches"? Ihre Korrespondenz wirft ein neues Licht auf die Ideengeschichte der Bundesrepublik.

Von Gustav Seibt

Im Sommer 1959, da kannten sich die Korrespondierenden schon seit neun Jahren, hatte Carl Schmitt "noch schnell" eine Frage an Reinhart Koselleck. Sie betraf eine Formulierung am Schluss von dessen Dissertation "Kritik und Krise", die endlich publiziert worden war. Schmitt durfte dieses ebenso schmale wie wuchtige Buch als Kind seines eigenen Geistes sehen, und so bereitete er eine kurze, wohlwollende Rezension vor. Doch eine kleine Stichelei konnte er nicht lassen: "Sie sprechen am Schluss Ihres Buches davon, dass sich die Utopie in den Händen des neuzeitlichen Menschen zu (sic) einem politisch ungedeckten Kapital (!) verwandelte und dass der Wechsel erstmals in der Französischen Revolution eingelöst wurde. Ich muss nun als Jurist genauer fragen: Wer hat wem einen Wechsel ausgestellt? Wer hat ihn akzeptiert? Wer hat ihn wem präsentiert? Wer hat ihn bezahlt (eingelöst)?"

Die Fragereihe geht noch etwas weiter, und am Ende bleibt von dem kühnen Bild nichts mehr übrig. Koselleck kann darauf nur summarisch antworten: "Das Bild vom Wechsel ist stehengeblieben, weil es sich sozusagen eingewachsen hatte, ohne dass ich es streng analysiert hätte". Dann erläutert er es doch sehr gründlich: "Rigoros gefragt", schließt er, "lässt sich das Bild wohl nicht aufrechterhalten. Aber das trifft schließlich auch auf Symbole zu".

Die kleine Briefszene lässt etwas von dem Zauber ahnen, die Gespräche mit Schmitt auf eine ganze Schar von jungen Wissenschaftlern seit den Fünfzigerjahren ausübten. Schmitt, wegen seiner Verwicklung in den Nationalsozialismus vom akademischen Unterricht abgeschnitten, wurde durch die berühmten "Gespräche in der Sicherheit des Schweigens", die Dirk van Laak 1993 erforscht hat, zu einem der einflussreichsten Lehrer der frühen Bundesrepublik. Er war ein Menschenfischer, der einen untrüglichen Instinkt für Hochbegabungen gehabt haben muss, denn er fing sich seine Schüler vielfach noch im studentischen Alter ein. Eine Art von klandestiner Nebenuniversität entstand in Schmitts Haus in Plettenberg, verschwörerisch umraunt und verdächtigt. Ein Dutzend Mal hat Koselleck diesen Ort im Lauf der Jahrzehnte zu oft mehrtägigen Einzelgesprächen aufgesucht.

Der nun vorzüglich edierte Briefwechsel zeigt eine produktive geistige Nähe, die auch Leser überraschen wird, die Schmitts Einfluss auf Koselleck schon bisher nicht unterschätzten. Koselleck hat im Vorwort zu seiner Dissertation Schmitt gedankt. Er hat sich dessen Freund-Feind-Schema zu eigen gemacht, in dem großen Aufsatz zu asymmetrischen Gegenbegriffen, und zwar als Gegenbeispiel: Anders als Hellene und Barbar, Christ oder Heide und ähnliche Begriffspaare, lasse sich die Freund-Feind-Unterscheidung rein formal begreifen, denn sie liefere "das Raster möglicher Antithesen, ohne diese selbst zu benennen". Sie entwertet also das Gegenüber nicht von vornherein, und so öffnet sie den Raum möglicher Politik.

Das ist eine liberale, fast pluralistische Lesart von Schmitts berüchtigter Definition des Politischen. Und Schmitt hat ihr nicht widersprochen, jedenfalls nicht in diesem dichten und aufmerksamen Austausch, in dem kaum ein Faden liegen blieb. Schließlich hat Koselleck noch kurz vor Schmitts Tod dessen "Buribunken"-Satire als Hohlform neuzeitlicher Utopien gewürdigt, nun auch öffentlich unverstellt verehrungsvoll.

Die bürgerliche Form entlastete den Umgang für das Wesentliche: den Gedankenaustausch

Verehrungsvoll könnte nach erstem Eindruck auch der Briefwechsel wirken. Die Anrede bleibt auf Kosellecks Seite über dreißig Jahre unverändert: "Sehr verehrter Herr Professor" oder "Sehr verehrter Herr Professor Schmitt", und auch die Grußformel verzichtet nie auf das immer altmodischer werdende "Ihr ergebener". Kaum ein Brief ohne Dank, entweder für Sonderdruckgaben oder für Argumente. Häusliche Grüße in steifer bürgerlicher Manier. Der aufs Nebengleis geschobene alte Herr wurde von einem diensteifrigen Schüler, der wie ein Assistent schrieb, auch als er längst schon Professor war, wie ein Großordinarius angeredet: So scheint es, aber natürlich ist bei sprachlich so bewussten Briefschreibern das Moment von Rollenspiel, von eleganter Maske nicht zu verkennen. Die bürgerliche Form entlastete den Umgang für das Wesentliche, den konzentrierten, an Spannung nie nachlassenden geistigen Austausch.

Und die strenge Fassade darf nicht über das Selbstbewusstsein des Jüngeren hinwegtäuschen, der von Anfang an die führende Rolle in dem Gespräch an sich zieht. Bereits der allererste, fünf Seiten lange Brief des Dreißigjährigen zeigt einen fertigen Wissenschaftler, der dem Älteren ein Lebensprogramm unterbreitet. Für den heutigen Leser - anderthalb Jahrzehnte nach Kosellecks Tod - ist es geradezu atemberaubend zu erkennen, wie genau dieser sich an die damals entworfenen Grundlinien gehalten hat.

Begriffsgeschichte als Antwort auf den Historismus, weil sie eben nicht alles verstehend alles gelten lässt, sondern nach den wandelbaren politischen und sozialen Funktionen von Begriffen fragt - das ist ein genuines Erbe von Carl Schmitt, das Koselleck in diesem ersten Brief dankbar annimmt.

Zugleich erklärt er schon hier, wie er jene "historistische Sackgasse", die ihm Hans-Ulrich Wehler viel später vorhielt, zu vermeiden gedachte. Nämlich durch eine "Geschichtsontologie", die den Geschichtsphilosophen wie den Relativisten das Wasser abgraben sollte. Später nannte das Koselleck nüchterner eine "Theorie möglicher Geschichten", die er anthropologisch fundieren wollte. Schon im ersten Brief an Schmitt erwähnt er die Kategorien von "Herr und Knecht", "Freund und Feind", Geschlechtlichkeit, Generation und "geopolitische" Fragen, man kann es auch "Raum" nennen. Sein späteres Hauptthema, die Zeitlichkeit, erscheint hier noch nicht separat, denn es ist vorausgesetzt.

Wie geläufig ihm solche Frageraster schon in seiner ersten Zeit als Wissenschaftler waren, zeigen Beobachtungen aus dem akademischen Unterricht. "Soziologisch kann man die Studierenden vielleicht in zwei Gruppen teilen", so Koselleck an Schmitt im November 1955. "In diejenigen, die durch die Erziehung von 1945 ff. geprägt sind, und in die, an denen diese Erziehung bzw. Umerziehung vorübergegangen ist. Sei es durch Elternhaus oder weil sie Flüchtlinge sind oder weil sie dauernd in alten geordneten Verhältnissen aufgewachsen sind. Jedenfalls fehlt fast allen die Erfahrung des Krieges selber. Und darin besteht der entscheidende Abstand zwischen den Studenten und mir."

Von solchen konkreten Einblicken sind diese Briefe voll, die damit einen fortlaufenden Kommentar zu Kosellecks wachsendem wissenschaftlichen Werk bieten, nicht nur in den Äußerlichkeiten von Karriere und Organisation, sondern im Erfahrungsgehalt, bei Erprobung der Gedanken. Dabei entwickelt sich trotz aller Förmlichkeit eine zuweilen verschwörerisch anmutende Vertraulichkeit mit dem weisen Angeredeten: "Die Entnazifizierungs + Demokratisierungswelle nach 1945 hat offenbar die Erkenntnisträchtigkeit der Besiegten-Situation zerstört, und man erkennt in der Masse der jungen Studenten so recht den ,guten demokratischen' bzw. den ,alten nationalen' Geschichtslehrer wieder." So im Juli 1956, mitten im langen Weg nach Westen, auf den sich die Bundesrepublik nun endlich begeben hatte.

Erkenntnisträchtigkeit des Besiegten: Näher als bis zu solchen Andeutungen kam Koselleck Schmitts Wunde, seiner nationalsozialistischen Kompromittierung, an keiner Stelle. Das von Hermann Lübbe später diagnostizierte "kommunikative Beschweigen" zu Fragen des Nationalsozialismus, hier lässt es sich in Aktion und bei vollem Bewusstsein beobachten. Wenn Lord Byrons Napoleon-Kritik als "gehässige moralisierende Kläfferei" abgetan wird, dann wussten beide, wovon auch die Rede war.

Schmitt wiederum ermutigte den zeitweise in England lehrenden Koselleck, seinen Gastgebern in Rezensionen heimzuleuchten, "weil die Engländer die spezifisch kontinentale Leistung des gehegten Landkrieges endlich begreifen sollten und der Missbrauch der Christlichkeit als evasive Ausflucht nicht länger geduldet werden darf. Dieses C, das an alles angehängt und vorgehängt wird, ist das große Vehikel der Verschmierung."

Koselleck hat sich noch auf der Fünfzig-Jahr-Feier zu seiner Promotion 2004 gegen den von Jürgen Habermas 1960 erhobenen Vorwurf, ein Sprachrohr von Schmitt gewesen zu sein, gewehrt. Zu Recht, denn der Briefwechsel zeigt einen selbstbewussten Gesprächspartner, der Schmitts Gedanken selbständig anwendet und weiterdenkt. Dabei ist die Nähe der beiden doch unübersehbar. Koselleck liefert immer wieder länger Exkurse aus seiner eigenen Lehre und Forschung, die zeigen, wie eine deutsche Geschichte mit Schmitt'schen Kategorien ausgesehen hätte.

Koselleck blieb ein Denker ohne Ressentiment, das unterschied ihn vom Lehrer Schmitt

So wagt er im Juni 1976 das Gedankenexperiment eines frühzeitig liberalisierten zweiten deutschen Kaiserreichs: "Wäre freilich eine liberale Reichsverfassung gestiftet worden, so wäre wohl der erste Weltkrieg viel früher ausgebrochen, denn das liberale und nationale Bürgertum hätte nicht so lange gezögert, wie es die konservativen Preussen taten". Der Schluss sei erlaubt, "dass ein rein bürgerlicher Imperialismus sehr viel eher seine Konflikte mit der SPD nach außen geleitet hätte".

Carl Schmitt wird bei höherem Alter immer grämlicher und verbitterter, zumal eine neue Generation von Lesern nun mit moralisierender Entschiedenheit seine Texte aus dem Dritten Reich ausgräbt. Die Anwürfe häufen sich, und Schmitt sammelt sie mit Sorgfalt. Koselleck schreibt lange Briefe zu den runden Geburtstagen, die das Maß an Emotionalität, das diesem absichtsvoll unexpressiven Menschen überhaupt möglich war, ausschöpfen.

Koselleck blieb ein Denker ohne jegliches Ressentiment, das unterschied ihn zeitlebens von Schmitt. Darum interessierte ihn auch das Moralismus-Antimoralismus-Spiel nicht, das Schmitt umwaberte. In einem Interview im Anhang dieses noch lange zu studierenden Bandes analysiert er Schmitts nationalsozialistischen Sündenfall als typisch für das deutsche Bildungsbürgertum, jener Formation, der er sich selbst zugehörig wusste.

Reinhart Koselleck/Carl Schmitt: Der Briefwechsel. Herausgegeben von Jan Eike Dunkhase. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 459 Seiten, 42 Euro.

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