Aufmerksamkeit und Internet:Zur ewigen Unruhe

Ständig wird der Verlust einer langen Konzentrationsspanne beklagt - vor allem weil das Internet uns angeblich dümmer macht. Doch ist an dieser Idee nicht etwas faul?

Virginia Heffernan

Wir scheinen eine ganze Menge über Konzentrationsspannen zu wissen, jene Bestandteile des Charakters, die im digitalen Zeitalter zu Äquivalenten der Seelen geworden sind. Jeder Mensch hat eine bestimmte Aufmerksamkeitsspanne. Sie kann lang oder kurz sein. Lang ist gut. Hochschulkoryphäen, honorige Bürger, brave Kinder, sie alle sind gesegnet mit langen Konzentrationsspannen. Früher waren die Aufmerksamkeitsspannen robust, heute sind sie verkümmert. Technische Errungenschaften - MTV, Internet, iPhone - ließen sie schrumpfen. Nicholas Carr, der in seinem Buch "Wer bin ich, wenn ich online bin und was macht mein Gehirn solange?" die Auffassung vertritt, dass Web-Nutzung quasi automatisch Gehirnschäden verursacht, sagte im Fernsehen, dass wir aufgrund der Technologie in immer kürzeren Abständen abgelenkt und zerstreut werden und folglich "unsere Aufmerksamkeitsspanne unwiderruflich verloren haben".

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Manche Kinder surfen gerne im Internet, andere lesen gerne Bücher. Hat das wirklich etwas mit einer Aufmerksamkeitsspanne zu tun?

(Foto: ddp)

Auf der anderen Seite stehen die Freunde der Technik. Zahlenmäßig sind sie zwar unterlegen, aber sie sind genauso überzeugt von ihrer Wahrheit Wissenschaftsjournalisten verweisen auf Studien, die offenbar beeindruckende Konzentrationsspannen von Computerspiel- und Internetnutzern beweisen. Und so vermessen die Polemiker beider Lager die Auswirkungen der Technik auf unser aller Konzentrationsvermögen immer neu.

Mich wundert daran vor allem, dass sie alle sich überhaupt so tief ins Dickicht der Spitzfindigkeiten hineinwagen. Ich bleibe bei dem Thema nämlich immer an einer viel einfacheren Frage hängen. Hat wirklich jeder eine Aufmerksamkeitsspanne? Außerdem: Ist diese Spanne eine messbare Sache, so wie die Spannbreite eines Boxers? Existiert sie ganz unabhängig von einem Zeitungsartikel oder einem Schachspiel, das die Aufmerksamkeit ja erst erregt oder das umgekehrt von ihr ausgeblendet wird? Und haben die Psychologen ein Äquivalent zu einem Maßband, mit dem sie diese Spanne messen können?

Vielleicht liegt es daran, dass mein eigenes Gehirn zu oft in den endlosen Weiten des Internets herumschwebt, aber ich verstehe das einfach nicht. Ganz egal, ob uns das Netz nun dümmer oder schlauer macht: Ist nicht an der Idee, dass eine mysteriöse "Spanne" im Gehirn gewisse Dinge anziehender macht als andere, etwas faul? Das eine Kind spielt hervorragend Schlagzeug, schafft es aber kaum, auch nur ein Kapitel von Hemingways "Fiesta" zu lesen; das andere absolviert jeden Algebratest mit Bravour, aber versteht nicht mal, wie "Call of Duty" überhaupt gespielt wird.

Die Vorlieben dieser Kinder mögen ihre Eltern schockieren oder verzücken, aber jeder, der schon einmal von einer Tätigkeit angeödet und von einer anderen fasziniert war, kann doch die Wahl dieser Kinder überzeugender erklären, als es das gängige Modell tut, das den Inhalt dieser Aktivitäten zugunsten einer wolkigen, vage im Gehirn verorteten "Spanne" ignoriert. Wie haben wir uns nur zu dieser unglücklichen Vorstellung der Aufmerksamkeitsspanne nebst der dazugehörigen Idee versteigen können, dass eine größere Konzentrationsspanne das moralisch und ästhetisch wertvollste Gut der Menschheit ist?

In anderen Zeiten wurde Zerstreuung nicht als etwas angesehen, für das man sich zu schämen hat. Im Gegenteil, sie wurde immer wieder gepriesen - als Autonomie, Ausgelassenheit, Vielseitigkeit. Grüblerisch, düster oder zwanghaft zu sein galt als viel bedenklicher als die Frage, ob man sich leicht ablenken lasse. In Moby Dick versucht Starbuck, Ahab von seiner fixen Idee abzulenken, indem er ihm seine Familie in Nantucket ins Gedächtnis ruft. Ahab aber bleibt unter dem Bann eines "grausamen, unerbittlichen Imperators" - der totalen Fokussierung - auf seinem tödlichen Kurs. Ahabs dunkles Schicksal resultiert aus seiner Unfähigkeit, sich ablenken zu lassen. In der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts suchen die Figuren Ablenkung vor allem, wenn sie traurig oder wütend sind. Kein Wunder: Zerstreuung scheint etwas Freundliches an sich zu haben.

Ablenkung von der Ablenkung durch die Ablenkung

Tom Sawyer, der prototypische hyperaktive Lausbub, der lieber mit einem Käfer spielt als still in der Kirche zu sitzen, widersteht der Traurigkeit "nicht deshalb, weil seine Probleme weniger bitter oder schmerzlich für ihn wären, als es die eines Mannes für einen Mann sind, sondern weil ein neues, heftiges Interesse die Oberhand über sie gewann und sie für eine Weile aus seinem Geist verdrängte - genauso wie die Tragödien der Menschen in der Aufregung neuer Abenteuer vergessen werden." In den zwanziger Jahren, eine Dekade bevor T. S. Eliot den Zustand der "Ablenkung von der Ablenkung durch die Ablenkung" als Teil der Mühsal des modernen Lebens erkannte, machte sich Bertolt Brecht für ein "Raucher-Theater" stark, ein Theater, das die Zuschauer ermutigen sollte, sich während der Aufführungen Zigarren anzuzünden. Weil er seine Landsleute dafür verachtete, dass sie "so begabt darin sind, sich zu langweilen", hoffte er, dass das Rauchen während der Aufführung - wahlweise auch das Umhergehen, Reden oder das Verlassen des Theaters - ihren Individualismus stärken und sie im Idealfall gegen alle Tyrannei immunisieren könnte. Eine gesunde Unruhe sollte sie davon abhalten, einfach nur schafsäugig und gebannt dazusitzen.

Wenn wir schon vom Stillsitzen ohne Herumzappeln sprechen: Das ist genau das, was wir von Kindern wollen, die eine geringe Aufmerksamkeitsspanne haben, oder? Das erste Anzeichen, dass ein ablenkbares Kind sich "verbessert" - sei es, weil es älter wird oder weil es Ritalin nimmt - ist, dass es stillsitzt. Deshalb erwuchs die ADHS-Diagnose, die ja die Idee einer pathologisch kurzen Aufmerksamkeitsspanne erst populär machte, aus dem alten Krankheitsbild der Hyperaktivität. Das hyperaktive Kind zappelte in der Kirche und am Esstisch herum und brachte seine Mutter in Verlegenheit. Irgendwann haben wir damit aufgehört, Tom Sawyers Art von Zerstreutheit als Vitalität oder Disziplinproblem zu bezeichnen. Wir sahen darin plötzlich eine Krankheit, obwohl eine Zwillingsstudie zeigte, dass eine kurze Aufmerksamkeitsspanne nur ein Synonym für eine gewöhnliche Reizbarkeit und Launenhaftigkeit ist.

Aber nicht die Tatsache, dass die Theorie über den Konzentrationsumfang etwas, was man früher einfach als gewöhnlich oder als Zeichen eines künstlerischen Charakters ansah, zu etwas Neuem machte, ist so falsch an dem ganzen Konzept. Solche kulturellen Umbenennungen oder Neuinterpretationen gibt es immer, wenn sich die Anforderungen der Gesellschaft an die Individuen ändern. Das Problem an dem ganzen Diskurs ist vielmehr, dass er auf der Phantomidee eines Konzentrationsumfangs fußt. Ein gesunder "Aufmerksamkeitsumfang" ist nur wieder eine vage Sache mehr, von der wir ab jetzt glauben können, dass wir sie unrettbar verloren haben. Wir können jetzt darum trauern, dass wir sie verloren haben. Wir können uns sorgen, dass unsere Kinder sie nicht besitzen. Oder wir können die Kultur verteufeln, weil sie diese Spanne angeblich zerstört. Wer bitte braucht so etwas?

Die Autorin ist Fernsehkritikerin der New York Times. In ihrem Blog "The Medium - The Way We Watch Now" untersucht sie die Auswirkungen neuer Medien auf die Gesellschaft. Aus dem Englischen von Sarah Ehrmann und Alex Rühle

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