Noch nie hat Museumsarchitektur eine Kunstausstellung so beflügelt wie der schlauchartig lange Raum des Kunstbaus in München die Ausstellung "Lebensmenschen. Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin". Die Gestalter der Schau haben die fälligen Zwischenwände so in den Raum hineingestellt, dass der Besucher beim Betreten der Halle einen langen Korridor entlang der linken Außenwand vor sich sieht, der den Blick soghaft in die Tiefe zieht. Diese schier endlose Passage gibt dem Lebenswerk Jawlenskys eine perspektivische Tiefe, wie sie bislang in Ausstellungen und Büchern noch nie aufgerissen worden ist.
An dieser Außenwand, die man der leichten Kurvierung wegen bis zum Ende überblicken kann, hängen in dichter Folge fast 50 Gemälde, die Jawlensky zwischen 1900 und 1936 gemalt hat. Und da all diese Bilder menschliche Gesichter zeigen, kann man in einzigartig dichter Abfolge an einem einzigen Motiv die gewaltige stilistische Entwicklung nachvollziehen, die Jawlensky im Lauf seines Lebens vollzogen hat von den noch in Russland im Stil des Spätimpressionismus gemalten Bildnissen über die expressionistischen Porträts der Münchner Jahre, auf denen die Farben explodieren, bis zu den formal und farblich immer kühner abstrahierten Kopfstudien der letzten Jahre, die in Wiesbaden entstanden sind. Hat man diesen eindrucksvollen Parcours abgeschritten, wird man zugeben müssen, dass wohl kein anderer Künstler der Moderne so konsequent und so folgenreich mit einem einzigen Bildthema experimentiert hat.
Jawlensyks "Bildnis des Tänzers Alexander Sacharoff" ist eine Ikone des Expressionismus
Die Besucher, die etwa ein Drittel des Jawlensky-Pfads abgeschritten haben, können direkt gegenüber dem grell mit Farben prunkenden Selbstporträt Jawlenskys ein zwei Jahre vorher gemaltes, farblich ähnlich explosives Selbstporträt einer Frau entdecken. Gemalt wurde es von Marianne von Werefkin, jener Künstlerin, die fast dreißig Jahre lang auf recht wechselvolle Weise mit Jawlensky verbunden war, als Malerin lange vor ihm schon berühmt war, dann aber zehn wichtige Jahre ihres Lebens dem jüngeren Kollegen geopfert hat. Als sie schließlich wieder zu malen begann und ein höchst eigenwilliges Werk schuf, ist sie im Schatten des inzwischen berühmt gewordenen zeitweiligen Lebenspartners als Künstlerin übersehen, totgeschwiegen und vergessen worden.
Seit einigen Jahren gibt es in Deutschland wenigstens eine umfangreiche Biografie über das Leben der russischem Adligen Marianne von Werefkin. Dort kann man nachlesen, wie sich die Lebensumstände der Malerin und Mäzenin im Lauf der Jahrzehnte von privilegierter Wohlhabenheit bis zu prekärer Armut gewandelt haben. Das Buch gibt aber auch eine Vorstellung von den für die Kunstgeschichte so wichtigen Jahren des künstlerischen Aufbruchs in München, in denen Werefkin und Jawlensky als Maler einige der formalen und koloristischen Kühnheiten vorweggenommen haben, die dann von anderen Künstlern weiterentwickelt wurden und unter dem Stichwort "Blauer Reiter" in die Geschichtsbücher aufgenommen worden sind.
Jawlensyks Werk ist nach seinem Tod systematisch aufgearbeitet worden. Einige seiner Bilder - etwa das mit androgyner Erotik aufgeladene "Bildnis des Tänzers Alexander Sacharoff" - gehören zu den funkelnden Ikonen des deutschen Expressionismus. Das auf ganz andere Weise faszinierende Werk Werefkins aber ist bislang in keiner Einzelausstellung gewürdigt und noch nie dem quasi parallel entstandenen Werk Jawlenskys gegenübergestellt worden.
Das Münchner Lenbachhaus und das Museum Wiesbaden, die einen ansehnlichen Teil der Hinterlassenschaft der Künstler besitzen, haben die beiden Persönlichkeiten, die jahrzehntelang emotional miteinander verstrickt waren, in der Kunst aber ganz eigene Wege gingen, erstmals in einer Ausstellung einander gegenüber gestellt. Der anerkannte Klassiker der expressionistischen Malerei trifft also auf eine fast unbekannte Malerin - und das Wunder geschieht, dass dem Großmeister der Farbe, der an der langen Wand des Kunstbaus mit einer eindrucksvollen Serie von Menschenbildern triumphieren kann, nebenan im bewusst inszenierten Chaos der Stellwände eine Künstlerpersönlichkeit entgegentritt, die, gerade weil sie sich stilistisch so weit von ihm entfernt hat, am Ende verblüffend selbstverständlich zu ihm aufschließen kann.
Werefkins "Selbstbildnis mit Matrosenbluse" bedient sich entschieden moderner Mittel
Die Entdeckungsreise in den Kontinent Werefkin beginnt mit Gemälden, die noch unter den Augen des großen russischen Realisten Ilja Repin in Sankt Petersburg entstanden sind. Marianne von Werefkin (1860 - 1938) war gerade mal 21 Jahre alt, als sie Repins Ehefrau Vera quasi routiniert mit den Stilmitteln ihres Lehrers porträtierte. Welche technischen Fertigkeiten sie sich als Privatschülerin des Meisters erworben hat, zeigt der mit spielerischer Leichtigkeit auf die Leinwand gezauberte "Mann im Pelz" von 1890, der begreiflich macht, warum Werefkin damals als "russischer Rembrandt" gefeiert wurde.
In ihrem frech hingepinselten "Selbstbildnis mit Matrosenbluse" von 1893 bedient sich Werefkin dann schon entschieden modernerer Mittel; sie deutet also an, in welche Richtung es hätte weitergehen können. Doch dann passiert etwas: Durch Vermittlung Repins lernt sie den zum Offizier ausgebildeten, als Maler aber mittellosen russischen Kollegen Alexej von Jawlensky kennen, was ihr Leben entscheidend verändert. Sie, die zwei luxuriöse Ateliers besitzt und eine stattliche zaristische Rente bezieht, gibt das Malen auf und konzentriert sich ganz auf die entstehende intime Beziehung, die freilich immer wieder in schwere Krisen mündet - weil Jawlensky die Tage zwar gerne mit der geschätzten Lebenspartnerin verbringt, die Nächte aber lieber mit dem jüngeren Dienstmädchen.
Im Jahr 1896 ziehen Werefkin und Jawlensky mit dem Dienstmädchen nach München, wo sie eine herrschaftliche Doppelwohnung in der Giselastraße beziehen. In der neuen Umgebung setzt Jawlensky kraftvoll um, was er sich bei van Gogh und den Fauvisten abgeschaut hat. Mit groben Pinselhieben haut er leuchtende Farben, die das Motiv unter Strom setzen, auf die Leinwand. Alle Bildelemente rückt er so weit nach vorn, dass die Gemälde ihre Tiefe verlieren. In den Landschaften aus der Umgebung von Murnau etwa sind die gegenständlichen Andeutungen radikal auf ein Minimum reduziert. In den Stillleben fügen sich die Farbflecken zu fast abstrakten Mustern zusammen, wie sie Kandinsky erst Jahre später gewagt hat. Und in den Porträts, die anfangs vor Farbvitalität glühen, unterwirft er die Gesichter schon um 1912 einer klärenden Ordnung, die erahnen lässt, welche Abstraktionsexperimente er später mit ihnen anstellen wird.
Werefkin hat in München einen ganz neuen Stil entwickelt. Sie, die in Russland noch als Realistin brilliert hat, beginnt nun als Malerin geheimnisvolle Geschichten zu erzählen, die weit über den Inhalt hinaus Interesse wecken. Sie biegt sich erlebte oder erdachte Szenerien nach ihren eigenen poetischen Vorstellungen stilistisch eigenwillig zurecht. Im 1910 gemalten Bild "Tragische Stimmung" klafft zwischen der Frau im Vordergrund und dem nur noch schemenhaft erkennbaren Mann im Hintergrund ein Abstand, der durch das fließende Rot auf dem Boden blutig gesteigert wird. In ihren besten Bildern finden die zusammenkomponierten Figuren und Objekte also zu einer erzählerischen Einheit zusammen, die in ihrer packenden Rätselhaftigkeit ohne Beispiel ist.
Lebensmenschen - Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin im Kunstbau des Lenbachhauses in München bis 16. Februar. Katalog