Vormittags im Britischen Museum, in der Mesopotamien-Abteilung haben sich ein Dutzend Besucher um eine Vitrine geschart. Ein grauhaariger Herr, dessen Blazer und Lesebrille Expertentum signalisieren, deutet auf ein steinernes Löwenrelief: "Die Babylonier errichteten das größte Imperium, das der Nahe Osten bis dahin gesehen hatte. Dieser Löwe war ein Symbol ihrer Macht und. . .". Seine Erläuterungen verlieren sich im Hintergrund, während man sich beim Weitergehen ein Paar Kopfhörer aufsetzt.
An einer Vitrine am anderen Ende des Raums, die das Basaltrelief einer bärtigen Figur enthält, ist eine dreistellige Zahl angebracht. Man gibt die Nummer in das kleine Gerät ein, in das die Kopfhörer eingestöpselt sind, und Donnergrollen übertönt das Grundrauschen der Besuchermassen. Vor die Gewitteraufnahme schiebt sich eine kultivierte Männerstimme. Sie erklärt, dass es hierbei um Teshub handele, den hetitischen Sturmgott (daher die Untermalung). Während die Stimme Details zu den Hetitern und ihrer Kultur liefert, wandert der Blick hinüber zu der Besuchergruppe und ihrem bebrillten Führer, die sich mittlerweile zu einem anderen Ausstellungsstück bewegt haben. Wäre es interessanter, sich ihnen anzuschließen, Fragen zu stellen, sich mit den anderen Besuchern zu unterhalten? Oder würde man die Autonomie vermissen, die der Audioguide mit sich bringt?
Audioguides sind in vielen europäischen Museen zur festen Größe geworden. In so gut wie allen bedeutenden Häusern hat man mittlerweile die Option, sich ein solches Gerät auszuleihen und sich von ihm die Sammlungen erklären zu lassen. Es gibt sie in verwirrender Vielfalt, mit und ohne Tastatur, mit und ohne Bildschirm, als Audiogerät oder Interaktivbegleiter.
Das Grundkonzept der simpelsten, rein akustischen Variante, ist verführerisch einfach: Man durchstreift das Museum, tippt an markierten Stellen die entsprechende Nummer ein und bekommt eine Beschreibung des Werkes, oft angereichert mit Musik aus der Entstehungszeit, Zitaten des Künstlers oder der Kuratoren.
"Unsere ersten akustischen Touren gab es schon in den siebziger Jahren", sagt Matthew Cock, Leiter der Internetabteilung des Britischen Museums. "Damals ging man mit einem Kassettenrekorder herum, das war alles sehr linear." Erst die Umstellung auf Digitaltechnik um das Jahr 2000, ermöglicht durch das mp3-Format, habe jene flexible Nutzung erlaubt, die inzwischen für viele Museumsbesucher zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Speziell bei Sonderausstellungen haben sich die Audioguides als beliebt erwiesen. Bis zu 20 Prozent der Besucher besonders erfolgreicher Schauen mieten sich auch einen digitalen Führer.
Von der Audio-Tour bis zur totalen Interaktivität
Nebenbei hat Matthew Cock eine interessante Beobachtung gemacht: "Wenn die Besucher Eintritt für eine Ausstellung bezahlen, sind sie anscheinend eher bereit, auch noch Geld für den Audioguide auszugeben. Der Eintritt zu unserer permanenten Sammlung ist gratis, und der Prozentsatz der Besucher, die fünf Pfund für die Digitaltour investieren, ist deutlich geringer als bei den Sonderausstellungen." Beim Leonardo-Blockbuster in der National Gallery hingegen sind derzeit stets 500 Geräte gleichzeitig im Einsatz.
Die Londoner Museen sind wegweisend, wenn es um technische Neuerungen bei den Audioguides geht. Im Britischen Museum etwa birgt die robuste Plastikhülle einen Touchscreen, der weit mehr liefert als reine akustische Erläuterungen zu mehr als 200 Ausstellungsstücken: Eine interaktive Karte hilft bei der Navigation des riesigen Gebäudes. Man kann es in Eigenregie oder anhand mehrerer geführter Touren (darunter "Altes Ägypten", "Klassisches Altertum", und "Frühes Mittelalter") erkunden. Zudem gestattet der kleine Bildschirm Einblicke, die sonst nicht möglich wären.
Der Deckel der sogenannten "Royal Gold Cup" aus dem 14. Jahrhundert etwa ist stets geschlossen. Wer die reiche Emaille-Arbeit im Innern des Kelches sehen möchte, kann dies auf dem Bildschirm des Audioguides tun. Die Erklärungen lenken die Aufmerksamkeit auf Details, die das ungeübte Auge kaum entdeckt hätte: Die Frau, die sich auf dem Fries des antiken Nereiden-Monuments vor Verzweiflung die Haare rauft, oder die geflügelten Geländerstangen an der Balustrade der "Enlightenment Library".
An den Audioguides lässt sich unter anderem auch ablesen, wie sich die Zusammensetzung des Londoner Museumspublikums gewandelt hat: Die gefragteste Sprache nach Englisch ist Mandarin. "Es ist, als habe man einen Kurator im Taschenformat dabei", findet Matthew Cock.
Mit dieser Rolle des Audioguides als tragbarer Kunsthistoriker hat sich der dänische Medienforscher Jørgen Christensen befasst. Nutzer interaktiver Digitalguides haben nach seiner Untersuchung zwangsläufig einen anderen Zugang zu den Ausstellungsstücken als Besucher, die ein Museum ungeleitet durchstreifen. Der Audioguide sei, so Christensen, der verlängerte Arm einer Institution, welche "die Vergangenheit für den Besucher formt". All das, könnte man einwenden, tun allerdings bereits Aufteilung und Auswahl der Ausstellung. Und auch gedruckte Führer oder der Herr mit Brille und Blazer monopolisieren ja die Interpretation.
Ausstellung: Not in Fashion:Frisch geschlüpft
Es gibt viel Nacktheit, Gewalt, Voyeurismus - anderes wirkt unerwartet sanft: Das Frankfurter Museum für Moderne Kunst zeigt Mode und Fotografie der 90er Jahre.
Tatsächlich neu ist, dass der Besucher in manchen Fällen virtuell auf das Artefakt zugreifen und es verändern kann. So darf man im Londoner Haus des Gelehrten Dr. Johnson, der im 18. Jahrhundert das erste englische Lexikon verfasste, per Guide dem "English Dictionary" in einer digitalen Installation eigene Wörter hinzufügen. Die so entstandene Version kann sofort im Internet veröffentlicht werden.
Das Ergebnis der Interaktivität ist nach Christensens Ansicht eine "Schwächung der Autonomie des Ausstellungsstücks". Solch potentieller Tücken des Geräts ist sich auch Jessica Taylor durchaus bewusst. Die Kreativdirektorin des Audioguide-Marktführers "Antenna International" sagt: "Wir wollen auf keinen Fall, dass die Besucher nur noch auf kleine Bildschirme starren und sich die eigentlichen Ausstellungsstücke gar nicht mehr ansehen."
Für die Erstellung einer Tour braucht man im Schnitt zwölf Wochen. Das Wichtigste bei der Planung ist die exakte Absprache mit dem Kunden: Soll es eine interaktive oder eine reine Audiotour sein, mit Musik- und Geräuschuntermalung? Beim Treffen mit den Museums-Kuratoren, die häufig ein Modell der Ausstellung mitbringen, fällt die Entscheidung, welche Werke in die Tour aufgenommen werden sollen. "Sie dürfen zum Beispiel nicht zu nah beieinander sein, sonst stehen die Besucher alle in einer Ecke", so Taylor. Es werden Interviews mit Ausstellungsmachern, Experten, gegebenenfalls dem Künstler selbst geführt.
Nach drei Wochen steht der erste Entwurf, der gegengelesen und verbessert wird. Die Sprecher müssen gecastet, Musik ausgesucht oder eigens komponiert werden. Die Übersetzungen in andere Sprachen koordiniert ebenfalls London. Nach Abnahme der endgültigen Version beginnt die Aufnahme der Sprecher, die Mischung mit Soundeffekten und Musik.
Ausarbeitung und Produktion finden in den minimalistischen Antenna-Büroräumen im Londoner East End statt. Im obersten Stockwerk des unauffälligen Gebäudes an der Great Eastern Street ist das kleine Tonstudio untergebracht, in dem laut Marketing-Chef Matt Vines nahezu täglich neue Touren eingesprochen werden. Antenna ging in den neunziger Jahren aus der Verschmelzung einer britischen Technologiefirma mit dem experimentellen Antenna-Theater hervor, das in den USA bereits seit den frühen Achtzigern Audiotouren inszeniert hatte. Die erste, auf einem Walkman, führte durch das ehemalige Gefängnis Alcatraz, und läuft bis heute.
Gegenwärtig arbeitet Antenna weltweit für rund 450 Kunden und hat bisher mehr als 1000 Touren produziert. Die Firma betreibt Dependancen in diversen europäischen Ländern, Israel und Thailand. Die Hauptquartiere sind in Connecticut und London, wobei London für den europäischen, nahöstlichen und asiatischen Raum zuständig ist. In Deutschland gehören die Münchner Pinakothek der Moderne und die Berliner Neue Nationalgalerie, in London die größten Museen - National Gallery, die Tate-Galerien, die Royal Academy und das Britische Museum - zu Antennas Kunden.
Werden die Artefakte zur Nebensache degradiert?
Die technische Entwicklung der Audioguides ist seit der Einführung von mp3 sehr schnell fortgeschritten. Matt Vines präsentiert in seinem Büro eine kleine Auswahl von Geräten. Der CD-Rom Spieler, der in den neunziger Jahren Verwendung fand, sieht aus wie ein ausgebautes Autorradio und wirkt unglaublich klobig im Vergleich zu den handlichen Audio- und eleganten Interaktiv-Guides. Seit ein paar Jahren kann man sich viele Touren auch als Smartphone-App herunterladen. Das habe nicht nur den Vorteil, dass der Verleih des Players entfalle, die Besucher könnten die Informationen auch mit nach Hause nehmen, sagt Jessica Taylor. Zudem gibt die Möglichkeit der Verknüpfungen mit Internet-Seiten, Twitter-Feeds und Facebook.
Bei diesem Angebot stellt sich erneut die Frage, ob nicht allmählich der Blick auf den Guide den eigentlichen Museumsbesuch zur Nebensache degradiert. Blickt man in der National Gallery mehr auf die echte "Felsgrottenmadonna", oder doch eher auf die Farb- und Hintergrundanalyse, die der interaktive Guide offeriert?
"Tatsächlich gab es, als die Umstellung auf die Digital-Guides begann, seitens der Museen einige Sorge, dass man sich zu abhängig von der Technik machen könnte, wenn sie ein integraler Bestandteil des Angebots würde", sagt Matthew Cock vom Britischen Museum. Diese Furcht sei jedoch einer zunehmenden Trittsicherheit im Bereich neuer Medien gewichen. Cocks eigenes Haus etwa produziert seit einigen Jahren seine Touren selbst, nur die Hard- und Software werden noch von Antenna gestellt. So habe man mehr Kontrolle über den Inhalt und die Rechte an den Texten, sagt Cock.
Und letztlich behält ja auch der Besucher Kontrolle über seinen digitalen Begleiter. Denn der Audioguide drängt sich niemandem auf. Er spricht nur, wenn er gefragt wird und muss sich durch Informationen behaupten, die weder Kataloge noch Erklärungstafeln liefern. Und man kann ihn jederzeit ausschalten.