"Attenberg" im Kino:Coolness, Sex und Antipsychologie

Während in Deutschland das Wirtschaftsleben floriert, die Filme aber in Bedeutungslosigkeit versinken, entsteht in Griechenland gerade ein junges und experimentierfreudiges Kino. Im Film "Attenberg" will die 23-jährige Marina endlich entjungfert werden - und übt schon mal den Zungenkuss. Abseits aller Romantik.

Rainer Gansera

Geheimnisvolle Dialektik von Ökonomie und Kunst. In Deutschland floriert das Wirtschaftsleben, die Filme aber versinken künstlerisch in der Bedeutungslosigkeit, werden international zur Randnotiz. Im krisengebeutelten Griechenland dagegen entsteht ein junges, vitales, experimentierfreudiges Kino, eine Art Nouvelle Vague. Besichtigen kann man das in Berlin in der Reihe "Neues griechisches Kino" im Arsenal (bis zum 30. Mai), zugleich läuft ein Schlüsselwerk der Bewegung nun bundesweit an: Athina Rachel Tsangaris "Attenberg".

Kinostarts - 'Attenberg'

Wie eine Nacktschnecke, so schleimig: Marina und Bella üben den ersten Zungenkuss.

Der Titel bezeichnet kein Alpenmassiv, sondern verballhornt den Namen Attenborough. Die Protagonistin (bezaubernd: Ariane Labed) liebt die legendären BBC-Tierdokumentationen Sir David Attenboroughs, sein Name aber bleibt ihr unaussprechlich. Fasziniert lauscht sie dem Statement des Briten, er wolle "dem Menschsein entfliehen und in die Welt der Gorillas eintauchen", für sich selbst dreht die Fluchtrichtung allerdings um. Sie will in die Menschenwelt eintauchen. Mit ihren 23 Jahren ist sie noch Jungfrau und damit soll jetzt endlich Schluss sein.

Eine Story nach dem Coming-of-age-Muster, aber sie wird derart verspielt und tänzerisch in Szene gesetzt, dass die Geschichte vom Erwachsenwerden zugleich aussieht wie eine vom Kindbleibenwollen. Marina lebt in einem abgelegenen, industriell zersiedelten Küstenort, jobbt als Chauffeuse, kümmert sich um den Vater (Vangelis Mourikis), der unheilbar an Krebs erkrankt ist, will sich von einem Ingenieur deflorieren lassen und übt schon mal mit der sexkundigen Freundin Bella (Evangelia Randou), wie der Zungenkuss funktioniert.

Dabei ergibt sich, als Bella ihr die Zunge in den Mund steckt, folgender Dialog: "Wie fühlt sich meine Zunge an?" - "Wie eine Nacktschnecke, es ist ekelhaft, du bist so schleimig." - "Wenn es nicht feucht ist, geht gar nichts!"

Eine Zungenkussübung ohne jedes Anzeichen erotischer Leidenschaft. Gleich hernach fauchen sich die Freundinnen wie Katzen an. Naives Kinderspiel und raffinierte Performance, ein Mix, wie man ihn ähnlich bei der Allround-Künstlerin und Filmemacherin Miranda July findet.

Keine Sentimentalitäten, aber echte Vertrautheit

Über fünfzig Festivals haben "Attenberg" ins Programm genommen, er ist ein Lieblingsfilm der weltweiten Kinoentdecker geworden - durch seine souveräne Art, sich in die Traditionslinien des Autorenkinos einzuschwingen und dabei doch eine ureigene Stimme zu finden. Am besten lässt sich "Attenberg" beschreiben, wenn man seinen Umgang mit den essenziellen Motiven des modernen Kinos ins Auge fasst, also mit Coolness, Sex, Antipsychologie und Topographie.

Cool ist nicht nur das spektakuläre Zungenkuss-Intro. Auch der Beischlafversuch mit dem Ingenieur spielt sich jenseits aller Romantik ab, beinahe wie eine Slapstick-Nummer. Ebenso cool wird Marinas Umgang mit dem todkranken Vater geschildert - sehr im Gegensatz zu den aktuell so zahlreichen Sterbebegleitungsfilmen, die gleich in den ersten Szenen die Tränen fließen lassen.

Bei Marina und ihrem Vater gibt es keine Sentimentalitäten, dafür anrührende Momente der Vertrautheit. Die beiden springen auf dem Bett herum, imitieren Balzrituale von Gorillas und Möwen, und wenn der Vater einmal nachdenklich wird, murmelt er: "Ich boykottiere das zwanzigste Jahrhundert, es ist überbewertet, und ich bereue nicht, es zu verlassen!"

Natürlich könnte man die Vater-Tochter-Konstellation psychologisch deuten, als Verhängnis patriarchaler Übermacht, aus der sich die Tochter lange Zeit nicht befreien konnte. Dagegen sträubt sich die Regisseurin mit listenreichem Witz, hebt alles in ein existenzielles Spiel voller Zitate und Referenzen.

Robert Bresson, Pina Bausch und Monty Python

Athina Rachel Tsangari verehrt die Großen des Autorenkinos: die Strenge Bressons, die Selbstironie bei Buñuel, Fassbinders Melodramatik. Viele Spuren dieser Vorlieben ließen sich aufzeigen, aber sie bleiben im Verborgenen, stellen sich nicht aus. Oder sie kommen augenzwinkernd daher - etwa wenn die tänzerischen Duette von Bella und Marina auf Pina Bausch verweisen und zugleich auf Monthy Pythons "Ministry of Silly Walks".

Immer sucht die mise-en-scène nach eindringlicher Präsenz von Körpern und Orten, konturiert eine Topographie kalter Räume (endlose Krankenhauskorridore im Neonlicht, aseptische Wartezimmer) und zerfaserter Landschaften. Alle Aufbrüche des modernen Autorenkinos charakterisiert der Mut, Un-Orte aufsuchen, Zonen des Niemandslands, die das Mainstreamkino meidet wie der Teufel das Weihwasser.

Der italienische Neorealismus navigierte am Stadtrand zwischen Brachland, Slums und sozialem Wohnungsbau, und wenn sich heute ein junges argentinisches Kino zu Wort meldet, zum Beispiel mit Gustavo Tarettos "Medianeras", dann spricht dort ein siebenminütiger Prolog von der architektonischen Katastrophe der Megacity Buenos Aires.

In "Attenberg" ist von Anfang an klar, dass es an dieser griechischen Küste keine Sehenswürdigkeiten gibt, keine Bungalow-Idylle, sondern eine zivilisatorische Unwirtlichkeit, in der so etwas wie Identitätsfindung kaum gelingen kann. Marinas Vater war Architekt. Einmal blickt er auf den Ort mit seinen Reihenhäusern und gespenstischen Industrieruinen und benennt eine der Wurzeln der Krise Griechenlands so: "Auf Schafställen errichteten wir eine Industriekolonie und dachten, wir machen Revolution!"

ATTENBERG, Griechenland 2010 - Buch und Regie: Athina Rachel Tsangari. Kamera: Thimios Bakatakis. Mit Ariane Labed, Evangelia Randou, Vangelis Mourikis, Giorgos Lanthimos, Kostas Berikopoulos. Verleih: Rapid Eye Movies, 95 Minuten.

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