Atomtests:Der Tag, an dem die Sonne zweimal aufging

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Am 1. März 1954 zerstörte "Bravo", die größte Wasserstoffbombe in der Militärgeschichte der USA, das Bikini-Atoll.

Von Sabina Griffith

Rokko Langinbelik war zwölf Jahre alt, als sich das Paradies, in die Hölle verwandelte: "Es war früh am Morgen, als wir im Westen ein helles Licht aufgehen sahen - fast so wie eine zweite Sonne. Es folgte ein ohrenbetäubender Donner, dann begann die Erde zu beben. Zwei Stunden später war jedes Blatt, jedes Tier und jeder Mensch auf der Insel mit gelbem Staub bedeckt."

Karikatur aus dem Daily Mirror von 1954 (Foto: N/A)

Was Rokko und die anderen ahnungslosen Bewohner der Pazifikinsel Rongelap an jenem 1. März des Jahres 1954 für eine Laune der Natur hielten, war in Wirklichkeit das Vorspiel zur Apokalypse.

Keine 200 Kilometer westlich ihres Archipels, auf dem Bikini-Atoll, hatten die Amerikaner soeben die größte jemals von ihnen gebaute Wasserstoffbombe mit dem Codenamen "Bravo" gezündet. Ein 15 Megatonnen-Killer mit einer Sprengkraft von 1000 Hiroshimabomben.

Gewaltiger als "Bravo" war alleine die 50-Megatonnen-Bombe "Zar", mit der die Russen beinahe die arktische Insel Nowaja Semlja pulverisiert hätten.

Zwei Inseln und ein Fischerboot

Viele Millionen Tonnen radioaktiv verstrahltes Wasser, Sand und Korallenkalk, ja sogar Fische und Kokosnüsse wurden an jenem Morgen Kilometer hoch in die Atmosphäre katapultiert.

Ein Teil der zu Asche verglühten Insel fiel kurz nach der Detonation wieder auf die Erde nieder, allerdings nicht dort, wo man es vermutet hatte. Laut Berechnungen der Meteorologen hätte es in den höheren Luftschichten über Bikini am 1. März windstill sein sollen.

Doch die Natur hielt sich nicht an die Vorhersage und so rieselte der Fallout statt über dem geräumten Bikini-Atoll über den 236 ahnungslosen Einwohnern der Nachbarinseln Rongelap und Urik herab. Und über einem unbemerkt in der Nähe dümpelnden japanischen Fischerboot.

Während die Bewohner der benachbarten Inselgruppen ihrem Schicksal schutzlos ausgeliefert waren - niemand hatte sie gewarnt, geschweige denn in Sicherheit gebracht - hatten die Amerikaner die Bewohner des Bikini-Atolls bereits acht Jahre zuvor, mit dem Start der Operation "Crossroads", evakuiert.

Mit dem Argument, sie würden dem Weltfrieden einen großen Dienst erweisen, indem sie ihr Atoll räumten und so den Weg frei machten für strategisch wichtige Atomwaffentests, hatte die US-Regierung die 167 Bikini-Bewohner 1946 auf die 200 Kilometer entfernte Insel Rongerik gelockt.

Zelte neben der Rollbahn

Doch die neue Heimat erwies sich als wenig fruchtbar. Als ein Jahr nach der Umsiedlung ein amerikanischer Arzt das Eiland besuchte, musste er entsetzt feststellen, dass die Einwohner massive Anzeichen von Unterernährung aufwiesen. Die Weltpresse bekam Wind davon und kritisierte die US-Regierung scharf.

Also wurden die Bikinianer erneut verpflanzt, diesmal auf den US-Luftwaffenstützpunkt Kwajalein, wo man den Heimatlosen Zelte auf einem Grasstreifen neben der Rollbahn zuwies. Weil dies auch keine Dauerlösung sein konnte, wurde händeringend nach einer Alternative gesucht.

Die nächste Station des Exodus lautete Kili, eine bis dahin von Menschen wie Göttern unbelästigte Insel im südlichen Teil der Marshall-Gruppe, die üppige Vegetation versprach und reiche Fischvorkommen. Kili jedoch wurde stets von einer kräftigen Brandung umspült.

Die Bikinianer aber waren gewohnt, ihre Boote in einer geschützten Lagune zu Wasser zu lassen. Zudem waren jene Fischarten, die ihre Vorfahren seit Generationen in den Gewässern rund um Bikini gefangen hatten, auf Kili unbekömmlich. Giftige Korallen machten ihr Fleisch ungenießbar.

1967, neun Jahre nach der Zündung der letzten Atombombe, erlaubte die amerikanische Regierung nach Zustimmung der internationalen Atomenergiebehörde den Insulanern die Rückkehr nach Bikini. Die Strahlung, so die Gutachter stelle keine Gefahr mehr dar.

1975, während einer Routinekontrolle, wurden Spuren von Plutonium 239 und 240 im Urin der Inselbewohner nachgewiesen. Diese forderten daraufhin eine eingehende radiologische Untersuchung.

Erschreckende Werte

Nach einem drei Jahre währenden Rechtsstreit mit den US-Behörden fand diese dann auch statt - mit einem erschreckenden Resultat: Die Konzentration von Strontium 90 im Brunnenwasser lag weit über dem erlaubten Wert und auch die Cäsium 137-Belastung im Gewebe der Menschen war um das Elffache höher als es der Arzt oder Apotheker empfohlen hätte.

Bei einer öffentlichen Anhörung mussten die Gutachter eingestehen, dass sie sich seinerzeit bei der Berechnung der noch vorhandenen Strahlung um den Faktor hundert verrechnet hatten. Bikini wurde erneut evakuiert. Quallenkinder und ein Elefant

Krebs ist bis heute die häufigste Todesursache auf dem Südsee-Archipel. Und selbst wer den Tag überlebt hat, an dem die Sonne im Paradies zweimal aufging, trägt die tickende Zeitbombe zeitlebens in sich. Das Spaltprodukt Cäsium 137 klebt am Boden und in den Pflanzen und frisst sich so allmählich durch die Blutbahn der Menschen. ´

Die heute 67-jährige Akmira Matayoshi war im März 1954 hochschwanger. Doch das, was sie zur Welt brachte, war kein Lebewesen, sondern ein quallenartiges Monster. "Jellyfish Babies" nannten die Bewohner von Rongelap die Totgeburten, die nichts mit einem menschlichen Wesen gemein gehabt hätten, wurde Akmira unlängst im Honolulu Advertiser zitiert.

Zu wenig Geld

50 Jahre nach "Bravo" blickt die Weltöffentlichkeit plötzlich wieder nach Bikini. Und nicht nur die Öffentlichkeit. Im Juli vergangenen Jahres gestattete man dem Anwalt der Inselbewohner von Bikini, Enewetak, Rongelap und Utrik, Jonathan Weisgall, vor dem Finanzausschuss des US-Senats zu sprechen.

Zwar hat die US Regierung - auf höchstrichterliche Anweisung - im Laufe der Jahre rund 150 Millionen Dollar in eine Stiftung zum Wiederaufbau der Inseln eingezahlt, doch reichte das Geld weder für die medizinische Betreuung der Menschen noch für das Abtragen der verstrahlten Erdkruste.

Und so wird dem erlauchten Kreis nicht sonderlich gefallen haben, was Weisgall im Namen der seit 50 Jahren heimatlosen Menschen zu sagen hatte. Das nukleare Erbe, das auf diesen Inseln laste, sei vergleichbar mit dem sprichwörtlichen Elefant auf der Gartenparty: "Er ist da, jeder weiß es, doch niemand spricht darüber."

Insgesamt 67 Atom- und Wasserstoffbomben haben die Amerikaner zwischen 1946 und 1958 auf den Inseln der Marshallgruppe gezündet, 23 davon alleine auf Bikini. Dort, wo einst farbenfrohe Korallenriffe ein Atoll formten, gähnt heute ein riesiger dunkler Krater.

Bis heute unbewohnbar

Vier Inseln wurden komplett von der Landkarte gesprengt, auf dem Enewetak-Atoll fünf. Dafür hat man dort ein Denkmal errichtet. Ein riesiger Betondeckel, unter dem tausende Tonnen radioaktiver Müll lagern.

Der nördliche Teil des Enewetak-Archipels ist bis heute unbewohnbar, auf Bikini kehren die ersten Menschen langsam zurück. Vor sieben Jahren haben einige geschäftstüchtige Insulaner damit begonnen, ein kleines elitäres Tauchcenter zu betreiben, mit dessen Profit sie die Rekultivierung ihres Atolls finanzieren.

Aus radiologischer Sicht sei der Aufenthalt auf Bikini für die Gäste ungefährlich, heißt es - so lange sie die Finger von den Kokosnüssen lassen und sich an den Speisen laben, die per Schiff angelandet werden.

© SZ vom 1.3.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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