Atomdebatte in Japan:Nuklearer Zwiespalt

Es ist paradox: Japan hat einen breite Bewegung gegen Atomwaffen, aber keine gegen Atomkraft. Die Regierung sorgte dafür, dass der Widerstand begrenzt bleibt. Mit Fukushima könnte sich das ändern.

Sebastian Conrad

Das größte Kernkraftwerk der Welt steht in Kashiwazaki an der japanischen Westküste. Vor vier Jahren, am 16. Juli 2007, wurde es von einem Erdbeben der Stärke 6,6 auf der Richter-Skala erschüttert. Radioaktive Flüssigkeit trat aus und ergoss sich in das japanische Meer. Die Betreiberfirma Tepco, inzwischen auch hierzulande keine Unbekannte mehr, wollte den Betrieb bereits am nächsten Tag wieder aufnehmen. Die Regierung hingegen ordnete die Schließung an, die fast zwei Jahre andauern sollte. Tausende Familien und Geschäftsreisende sagten ihre Aufenthalte in den Hotels und Wellness-Oasen an der Küste ab. Aber die Fortsetzung von Japans umfangreichem Kernenergieprogramm stand nie zur Disposition.

Ein Déjà-vu. Und ein Rätsel, jedenfalls für die westliche Öffentlichkeit, und zumal in Deutschland, wo der Widerstand gegen Kernkraftwerke ein ganzes politisches Milieu eint und eine eigene Partei hervorgebracht hat. Wie kommt es, dass in eben jenem Land, das am Ende des Zweiten Weltkrieges selbst die Schrecken der Atombombe erlebt hat, die Unterstützung und Akzeptanz der zivilen Nutzung der Kernenergie so unerschütterlich zu sein scheint? Tatsächlich ist das ein Paradox: 1954, knappe zehn Jahre nach Ende des Krieges, wurde ein japanisches Fischerboot von einem amerikanischen Atomtest im Pazifik verstrahlt und dadurch zum Symbol des Protests gegen Atomwaffen, der zu einer Massenbewegung anwuchs. Im selben Jahr schuf die amerikanische Regierung die Möglichkeit, Reaktoren zu exportieren - und Japan begann mit der Planung seines umfangreichen Kernenergieprogramms.

Wie passt das zusammen? In der Tat ist die Anti-Atomwaffenbewegung in Japan bis heute die größte zivilgesellschaftliche Gruppe.

In den Jahren nach dem Abzug der Amerikaner 1952 entstand eine eigene Form des antinuklearen Nationalismus: Japan stilisierte sich zum einzigen Land, das je eine atomare Katastrophe erfahren hatte, und nun dafür prädestiniert sei, die Welt vor dem Atomkrieg zu retten.

Die Massenbewegung gegen Atomwaffen hat jedoch nicht dazu geführt, dass auch die Mobilisierung gegen die Kernenergie zu einer starken politischen Kraft geworden wäre. Tatsächlich gibt es in der Praxis nur wenige Verbindungen zwischen beiden Strömungen. Das ist umso überraschender, als angesichts des eng besiedelten Landes und der allgegenwärtigen Erdbebengefahr die Formierung einer breiten Protestbewegung sehr viele Anknüpfungspunkte gehabt hätte.

Man hat daher auch das gesamte Arsenal der Japan-Klischees aufgefahren, um diese scheinbare Diskrepanz zu erklären: den autoritären Staat, die Hierarchien der politischen Kultur, eine Mentalität der Konfliktvermeidung. Oder den Konfuzianismus, die Samurai-Ethik, die Kirschblüte. Es scheint nach wie vor legitim, Analysen der japanischen Gesellschaft in Form von kulturellen Stereotypen zu formulieren, wie sie etwa für den französischen Fall - mit seiner noch viel stärkeren Abhängigkeit vom Atomstrom und einer schwachen Anti-Atombewegung - undenkbar wären. Oder für den eigentlichen Ausreißer im internationalen Vergleich, Deutschland.

50 "Problemfälle" pro Jahr

Tatsächlich gibt es in der japanischen Nachkriegszeit durchaus eine Tradition der sozialen Bewegungen: Großangelegte Proteste, massenwirksam, häufig gewalttätig. Darunter waren die Proteste gegen die Verlängerung des Sicherheitsvertrages mit den USA im Jahre 1960, als wochenlange Demonstrationen die Regierung stürzten und den US-Präsidenten Eisenhower zwangen, seinen Besuch abzusagen; die Studentenbewegung 1968, die sich auch gegen den Vietnamkrieg und gegen Umweltverschmutzung richtete und selbst im internationalen Vergleich zu den besonders heftigen Erscheinungen dieses Jahres gehörte.

Die Bewegung gegen die Kernenergie hat es zu solcher Prominenz, und auch zu landesweiter Kohärenz, nie gebracht. Auch wenn die Gegner des Atomstroms seit den 1990er Jahren rasch an Zahl zugenommen haben. In diesem Jahrzehnt erlebte Japan den Durchbruch als Atommacht: Kraftwerke wurden in Japan gefertigt und nicht mehr importiert; zugleich exportierte man selbst. Noch 1990 wurden nur neun Prozent des japanischen Energiebedarfs atomar gedeckt, zehn Jahre später waren es schon 32 Prozent; die Zahl der Reaktoren stieg auf über 50. Diese Zunahme zielte darauf, angesichts mangelnder fossiler Brennstoffe die Abhängigkeit von den weit entfernten Erdölquellen zu überwinden.

In dieser Zeit häuften sich jedoch auch die Zwischenfälle und Skandale im Kernenergiesektor. Der schwerste Zwischenfall ereignete sich 1995 im Reaktor Monju, einem Schnellen Brüter, bei dem Natrium austrat und der erst 15 Jahre später wieder in Betrieb genommen wurde. Staatliche Statistiken sprachen landesweit von 50 "Problemfällen" pro Jahr. Die Häufung von Zwischenfällen hat dazu geführt, dass die öffentliche Meinung kippte. Und auch der Widerstand nahm zu. Vor allem an Orten, an denen Kraftwerke geplant waren oder ausgebaut werden sollten, formierte sich häufig eine sehr schlagkräftige Opposition. Ein bekannter Fall ist die Gemeinde von Maki in der Präfektur Niigata, die sich gegen ein geplantes Atomkraftwerk zu Wehr setzte, einen Atomkraftgegner zum Bürgermeister wählte und mit Prozessen und Bürgerentscheiden den Bau schließlich verhinderte.

Bislang ist der Widerstand jedoch lokal begrenzt und vereinzelt. Die Proteste gehören der NIMBY-Kategorie an, wie die Politikwissenschaftler das nennen: "Not in my back yard!" Häufig geht es um lokale und partikulare Interessen: Landwirtschaft, Fischfang, Tourismus. Eine landesweite Bewegung ist daraus noch nicht erwachsen. Auch das 1975 von Takagi Jinzaburô gegründete Citizens' Nuclear Information Center in Tokyo - Takagi wurde für seine Aktivitäten der alternative Nobelpreis verliehen - bleibt in seiner Wirkung begrenzt. Die Vereinzelung des Widerstandes ist aber auch das Ergebnis staatlicher Politik. Der amerikanische Politikwissenschaftler Daniel Aldrich hat gezeigt, dass die japanische Regierung bei der Ansiedlung von Kernkraftwerken gezielt nach Orten Ausschau hält, in denen die zivilgesellschaftlichen Kräfte schwach ausgeprägt sind. Und selbst dann werden politische Entscheidungen durch minuziöse Planung und Überzeugungsarbeit vorbereitet: Telefonumfragen, Besuche, Ausflüge zu anderen Kernenergie-Standorten für die Bevölkerung, spezielle Schulstunden - und schließlich massive kompensatorische Investitionen in die Infrastruktur der Kommune.

Im Vergleich mit fast allen anderen Ländern verzichtet Japan weitgehend auf Zwang bei der Umsetzung seines Kernenergieprogramms - etwa auf Enteignungen, die beispielsweise in Frankreich die Regel sind. Ein Ergebnis davon ist, dass angesichts lokaler Proteste nur etwa die Hälfte der Vorhaben tatsächlich in die Tat umgesetzt werden können (gegenüber 90 Prozent in Frankreich). Auf der anderen Seite hat diese Strategie dazu beigetragen, den Widerstand zu lokalisieren und eine nationale Antiatomkraftbewegung zu verhindern. Wenn jedoch die gegenwärtige Situation in Fukushima nicht unter Kontrolle zu bekommen sein sollte, dann wird sich das ändern.

Der Autor ist Historiker an der Freien Universität Berlin.

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