Atomausstieg und Demokratie:Die große Ungeduld

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Angela Merkel siegt in der Atomfrage durch überlegene Geschwindigkeit: Sie schafft erst Fakten und dann Recht und überrumpelt so die demokratischen Institutionen. Kann man dieses Vorgehen gutheißen, nur weil man die Ziele teilt?

Jan Füchtjohann

Geduld ist eine demokratische Tugend. In einer Gesellschaft aber, in der Entscheidungsfreudigkeit mit Willensstärke und Effizienz mit Leistung gleichgesetzt werden, wird aus der Tugend eine Schwäche. In den letzten zehn Jahren kannte man die neue Ungeduld demokratisch gewählter Machthaber vor allem aus den USA.

Alles, nur schnell raus hier: Gerade noch wollte Angela Merkel die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke verlängern - nun will sie den Ausstieg aus der Kernenergie. (Foto: dpa)

Dort kann der Präsident demokratische Prozesse mit einem Hebel abkürzen, der sich markig "executive order" nennt. Die amerikanische Verfassung sah diesen Hebel vor allem als Instrument vor, der in Kriegszeiten die Handlungsfähigkeit der Regierung optimiert. Bill Clinton garantierte damit die entschlossene Beteiligung der USA am Kosovokrieg. George W. Bush setzte nach dem 11. September 2001 Maßnahmen im Krieg gegen den Terror ohne langwierige Debatten im Kongress durch.

Im Europa der Nachkriegszeit übte man sich eher in demokratischer Geduld. Doch Angela Merkel hat es zunehmend eilig. In der Nacht zum Montag wurde nun der endgültige Ausstieg aus der Kernenergie bis zum Jahre 2022 beschlossen. Die Energiewende scheint nun vor allem eines zu beweisen - die Entscheidungsfreudigkeit und Effizienz der Kanzlerin.

Bereits im letzten Jahr rief sie einen "Herbst der Entscheidungen" aus, in dem sie unter anderem neue Hartz-IV-Sätze festlegen, eine Gesundheitsreform verabschieden, das Elterngeld justieren und die Laufzeiten der deutschen Atommeiler verlängern wollte. "Winter des Missvergnügens?" nannten das schließlich sogar ihre eigenen Leute im Parlament. In der Presse fielen hässliche Worte wie "Schweinsgalopp", "Halbstundentakt" und "Hauruckmethoden".

Die Laufzeitverlängerungen wurden damals erfolgreich durchgesetzt. Ein gutes halbes Jahr später ist diese Entscheidung bekanntlich schon wieder Geschichte. Nach dem Atomunglück im japanischen Fukushima fror die Regierung das neue Gesetz ein und erließ ein Moratorium.

Heute nimmt die Kanzlerin den Bericht der Ethikkommission entgegen, das Kabinett soll am 6. Juni entscheiden, die letzte Lesung der entsprechenden Gesetze ist für den 30. Juni im Bundestag geplant. Der Bundesrat soll dabei möglichst umgangen werden.

Das Hü und Hott der Kanzlerin verbindet dabei mehr, als sie trennt: Merkel handelt in jeder Richtung rasant, konsequent - und verfassungsrechtlich problematisch. Die Art, in der sie 2010 das neue Atomgesetz durchzusetzen versuchte, erntete sogar aus den eigenen Reihen Kritik.

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier (CSU), bestand in einem Gutachten auf der Zustimmungspflicht des zunächst umgangenen Bundesrats, Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) nannte Merkels Alleingang in der Zeit ein "beachtliches verfassungsrechtliches Risiko". Der Bundesrat wurde schließlich doch konsultiert und stimmte zu - wiederum im Eilverfahren.

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Ähnliche Bedenken treffen auch das Moratorium. Michael Kloepfer, Professor für Verwaltungsrecht an der Humboldt-Universität Berlin, erklärte bei einer von ihm einberufenen Tagung über "Hochrisikotechnologien", dass auch die Bundesregierung sich an Gesetze halten muss, sogar wenn es die eigenen sind. Das Unternehmen RWE klagte und könnte dabei recht behalten. Sogar die taz, sonst eher selten einer Meinung mit dem Energieanbieter, nannte die Stilllegungsverfügung "vermutlich rechtswidrig".

Das Moratorium basiert auf einer Art Notstandsparagraph, der eigentlich für akute Gefahren gedacht ist. Doch woher soll diese neue Gefahrenlage plötzlich kommen? Die Atomkraftwerke wurden bei der Laufzeitverlängerung gerade noch als sicher eingestuft. Tatsächlich gab die Reaktorsicherheitskommission in einem Gutachten zu Protokoll, sie halte ein Erdbeben und einen Tsunami wie in Japan in Deutschland für "praktisch ausgeschlossen", darüber hinaus seien die hiesigen Anlagen besser geschützt als der Unglücksreaktor.

Das wirft fundamentale demokratietheoretische Fragen auf. Diversen Meinungsumfragen zufolge ist eine Mehrheit der Deutschen für den schnellen Atomausstieg. Ob das auch die juristische Ausgangslage ändert, ist aber zumindest unklar. In jedem Fall kann eine rechtliche Prüfung erst stattfinden, nachdem das Moratorium bereits erlassen und effektiv ist - und während die Regierung im Eilverfahren eine neue Rechtslage herstellt.

Merkel siegt also durch überlegene Geschwindigkeit: Sie schafft erst Fakten und dann Recht und überrumpelt so die demokratischen Institutionen. Eine Möglichkeit zum Umdenken oder gar zur Kehrtwende ist dabei ein Privileg, das sie allein für sich selbst reserviert zu haben scheint, für die anderen bleibt allenfalls ein Schadenersatz.

Reine Machtpolitik

Die Frage lautet also: Sollte man dieses Vorgehen gutheißen, nur weil man Merkels Ziele teilt? Ist die Aussetzung demokratischer Verfahren gestattet, solange das Volk in den Meinungsumfragen dafür ist? Legitim ist die dramatische Beschleunigung - und damit de facto Suspendierung - rechtsstaatlicher Verfahren nur, wenn Gefahr im Verzug ist. Üblicherweise wird in Deutschland laut Bundestagsstatistik weit mehr als 100 Tage lang über ein neues Gesetz beraten. Eine Ausnahme von dieser Regel war zum Beispiel das deutlich schneller beschlossene Kontaktsperregesetz für Terroristenanwälte bei der Schleyer-Entführung 1977 oder die hastig verabschiedeten Gesetze zur Terrorismusbekämpfung nach den Anschlägen vom 11. September 2001.

Merkel selbst sammelte in der Finanzkrise Erfahrung mit der schnellen Gesetzgebung: Vor gut zwei Jahren wurde unter ihrer Führung das 500-Milliarden-Euro-Paket zur Bankenrettung geschnürt, es folgten die Rettungsschirme für Griechenland und den Euro. Die Beratungen über so gewaltige Summen dauern im Normalfall Monate - in diesen Fällen waren es wenige Tage. Allerdings konnte glaubwürdig gemacht werden, dass Staat und Gesellschaft nur durch äußerst schnelles und entschlossenes Handeln vor einer umfassenden Wirtschaftskrise, beziehungsweise dem Terrorismus geschützt werden konnten.

Dieses Muster hat Merkel nun auf einen völlig anderen Zusammenhang übertragen: auf die reine Machtpolitik. Fukushima brachte die Kanzlerin nämlich in ein Dilemma. Sie konnte an ihrem Kurs fest- und die verlängerten Laufzeiten beibehalten, und auf diese Weise die nächsten Wahlen verlieren. Oder sie konnte sich um 180 Grad drehen, und dabei Gefahr laufen, die Unterstützung aus den eigenen Reihen zu verlieren. Schließlich entscheidet nicht die ganze CDU wichtige Fragen nach tagesaktueller Stimmungslage. Eine Diskussion über das Thema war also kaum zu gewinnen. Daher wollte Merkel die Diskussion so schnell wie möglich loswerden, und verlagerte sie aus dem "Parteiengezänk" in eine eigens einberufene Ethikkommission.

Gefahr im Verzug

Der Grund ist nachvollziehbar: Es ist tatsächlich Gefahr im Verzug. Allerdings nicht für Deutschland, schließlich war der von dieser Regierung selbst über den Haufen geworfene geordnete Atomausstieg wenigstens genauso gut. Gefahr im Verzug war allein für Angela Merkel. Nicht Deutschland stand kurz vor dem Zusammenbruch, sondern allenfalls die Koalition.

Ein vergleichbarer Trend zur Selbstermächtigung der Exekutive ist auch aus anderen Ländern bekannt: Etwa aus Ungarn unter Viktor Orbán oder aus Italien unter Silvio Berlusconi. Es muss natürlich nicht immer gleich Selbstermächtigung sein. Auch die Pattsituation im Senat und Kongress der USA zwingt den amerikanischen Präsidenten dazu, sich mit dem "executive order" über den demokratischen Prozess zu erheben. Das spürt auch Barack Obama, der nun ebenfalls darauf zurückgreift.

Weil demokratische Instanzen für die Bewältigung einer Krise angeblich zu langsam sind, werden sie ausgeschaltet. Besonders gefährlich ist das, wenn die Regierung dabei von der Meinungsmehrheit gedeckt wird: Denn dann ist die Versuchung groß, sich mit dem Volk gegen die parlamentarische Demokratie zu verbünden und deren Gesetze nicht nur in Ausnahmefällen zu ihrem Spielball zu machen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, noch einmal ein Lob der Langsamkeit zu singen. Lange Dauer ist kein Defizit rechtsstaatlicher Verfahren. Sie ist ihre vornehmste Aufgabe.

Moderne Demokratien unterziehen ihre Entscheidungen bewusst retardierenden Prozessen: Es sollen verschiedene Meinungen gehört und abgewogen werden, auch wenn sie unliebsam sind. So dauern zum Beispiel Wahlen lange, sind teuer und umständlich, und doch ein unverzichtbarer Bestandteil der repräsentativen Demokratie. Genauso kosten unabhängige Medien die Regierenden Zeit, Nerven und gelegentlich den Job - eben deshalb sind sie für die Demokratie unverzichtbar.

Auch ordentliche Strafverfahren brauchen über Gebühr viel Zeit. Das gesamte Grundgesetz, das die Macht gezielt auf verschiedene, einander kontrollierende Organe verteilt, ist unfassbar umständlich, vor allem aus der Sicht einer Exekutive, die "durchregieren" möchte. Und doch ist genau das notwendig, um die Willkürherrschaft Einzelner, beziehungsweise einzelner Parteien und populistische Schnellschüsse mit unliebsamen Nebenwirkungen zu verhindern.

Dabei ist es gerade nicht das Ziel der im Grundgesetz vorgeschriebenen filternden und deliberativen Verfahren, den Volkswillen zu brechen und Entscheidungen letztlich einer Elite zu überlassen, in letzter Konsequenz den Verfassungsrichtern. Die Mehrheit soll und kann ihren Willen kriegen. Nur eben auf möglichst geordnete, überlegte und rationale Weise.

Denn das schützt alle Beteiligten: Die Minderheit vor einer überstürzt handelnden Mehrheit - und auch die Mehrheit vor einer überstürzt handelnden, nur noch an der eigenen Macht interessierten, Parlament und Gesetz missachtenden Kanzlerin.

© SZ vom 31.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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