Süddeutsche Zeitung

Biografie:Es ging immer nur um Freiheit

Pippi war nie korrekt! Ein Band über "Die unbekannte Astrid Lindgren" zeigt die erfolgreiche Autorin als Verlegerin.

Von Roswitha Budeus-Budde

Sie ist wohl das bekannteste Mädchen der Weltliteratur, Pippi Langstrumpf, über das am meisten diskutiert wurde, von Anfang an, bis heute, 20 Jahre nach ihrem Tod. Schon als Astrid Lindgren 1944 das Ur-Manuskript bei dem Kinderbuchverlag Bonnier einreichte, lehnte es der Verleger ab. "Ich hatte selbst kleine Kinder und stellte mir voller Entsetzen vor, was passieren würde, wenn sie sich dieses kleine Mädchen zum Vorbild nahmen." Eine Entscheidung, die er ein Leben lang bereute. Als Pippi im schwedischen Rundfunk gesendet wurde, verlangten Pädagogen sofort , dieses "demoralisierende Programm" zu beenden. "Pippi Langstrumpf wurde damals schon ein Zankapfel, ein beliebter Studiengegenstand für Pädagogen, Literaturwissenschaftler und Ethiker", schrieb Sybil Gräfin Schönfeldt in der Biografie "Astrid Lindgren. Erinnerungen an eine Jahrhundertfrau".

"Ich bekomme immer noch sehr viele Kinderbriefe", erklärte Astrid Lindgren beim Besuch in ihrer Wohnung am Vasa Park in Stockholm, im August 1997, und der Tisch neben ihr quillt über vor Papier. Kinderbriefe, "mit ganz detaillierten Fragen, die ich gar nicht beantworten kann. Und die Kinder wollen immer noch dieselben Sachen wissen, wie vor 50 Jahren. . . Denn Kinder sind Kinder, auch wenn manche Kindheit heute so schrecklich ist, dass man weinen muss, wenn man davon hört. Aber man kann nur wünschen, dass die Kinder die neuen Dummheiten der Eltern überwinden." Die heutige junge Generation würde ihr gefallen, die auch geprägt durch ihre Bücher, weltweit demonstriert gegen Umweltzerstörung, Rassenhass und Intoleranz. Ist Greta Thunberg, als Gründerin von Fridays for Future nicht beeinflusst von Pippi Langstrumpf?

"Sie erweiterte die Grenzen dessen, wie Kinderbücher aussehen und was sie beinhalten durften"

Manches in ihren Büchern gefällt ihr jetzt mit 90 Jahren nicht mehr - sie lässt sie sich wegen eines Augenleidens von ihrer Tochter vorlesen. Aber an Pippi Langstrumpf, "nein, da würde ich nichts ändern". Und doch sind die kritischen Proteste, trotz des großen internationalen Erfolges nicht verstummt. Besonders der dritte Band "Pippi in Taka-Tuka-Land" wird als Beispiel für kolonialistisches Denken verurteilt. Auch wenn Pippis Vater inzwischen nicht mehr N-König, sondern Südseekönig genannt wird und Pippi sich nicht wie eine Prinzessin aufführt und mit den Inselkindern nur Abenteuer erlebt. Astrid Lindgren hat immer hin später den Ehrenpreis zum alternativen Nobelpreis erhalten, für ihr "Engagement für Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und das Verständnis von Minderheiten", auch als Anerkennung dafür, dass sie in den 50er Jahren zusammen mit der Fotografin Anna Riwkin-Brick neun Bände über Kinder in Afrika, Asien und Europa verfasste. Sie erschienen bei Rabén & Sjögren, dem Verlag, in dem ihre eigenen Bücher verlegt wurden und in dem sie von 1946 - 1970 als Programmleiterin arbeitet, und sehr erfolgreich die schwedischen Kinder- und Jugendbuchautoren förderte. Die dann auf deutsch beim Oetinger Verlag herauskamen und großen Einfluss auf die deutsche Jugendliteratur hatten.

Astrid Lindgrens Ansprüche an die Kinderliteratur, die in zahlreichen Briefen dokumentiert sind, geben nicht nur einen Einblick in die Arbeit an ihren eigenen Büchern. Wie sie mit den Autoren und Autorinnen arbeitete, erzählt Kjell Bohlund, lange Zeit Verleger bei Rabén & Sjögren, in dem Band "Die unbekannte Astrid Lindgren. Ihre Zeit als Verlegerin" (Oetinger Verlag). In den Briefen entwickelt sie ihre ästhetischen Maßstäbe, die eine Herausforderung sind, die zu sehr unterschiedlichen Interpretationen führen können. "Sie erweiterte die Grenzen dessen, wie Kinderbücher aussehen und was sie beinhalten durften", schreibt Bohlund. Eine Herausforderung, es ging ihr immer um Freiheit. "Nicht um eine Befreiung im politischen Sinn, sondern um die künstlerische Freiheit. Befreiung von pädagogischen und religiösen Zwängen, Freiheit für die Autoren, Zeichner und Fotografen und das Recht der Kinder, als ebenbürtige Leserinnen und Leser betrachtet zu werden.

Diese Einstellung machte Astrid Lindgren angreifbar, auch in den 80er Jahren bei den antiautoritären Strömungen, die aber dem Erfolg ihrer Bücher nicht schadeten. Heute gilt die Erregung besorgter Erwachsener vor allem der Frage, ob Pippi (und andere ihrer Figuren) den Anforderungen der geltenden Correctness immer weiter angepasst werden müssen. Beim Abschied war sie immer noch nachdenklich, dass die Kinder sie in vielen Briefen um Hilfe gebeten hatten. Die Sehnsucht, wie in Bullerbü zu leben oder so stark und autonom wie Pippi Langstrumpf zu sein, bestimmt auch heute noch das Leben vieler Kinder.

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