Asoziale Smartphones:Ein Life-Changer: Lasst die Handys zu Hause!

Neuester Schrei auf Youtube: Ein Video, das zeigt, warum die Dauernutzung von Handys zu asozialem Verhalten und verpasstem Leben führt. Die Reaktionen darauf: breite Zustimmung.

Von Bernd Graff

I forgot my phone

Szene aus "I Forgot My Phone": Ein Mensch nutzt sein Phone zur Kommunikation mit irgendwas, während der gelebte Augenblick ignoriert wird.

(Foto: Screenshot)

Charlene deGuzman ist ... nun was eigentlich? Sie ist talentiert und steht am Beginn ihrer Karriere, das steht mal fest. Sie hat Tanzen und Schauspielern gelernt, öffentlich hervorgetreten ist sie als Stepp-Tänzerin während des Liedes "Don't Mess with Latexas" der Band Menomena, sie kann was an Drums und war schon mit STOMP unterwegs. Aber ansonsten muss man sich nicht schämen, noch nie von der Kalifornierin gehört zu haben, die es vor einiger Zeit mal zu Off-Broadway-Produktionen nach New York verschlagen hat. Inzwischen lebt sie in Los Angeles.

Charlene deGuzman betreibt einen kleinen Youtube-Video-Kanal, der, auch das ist keine Schande, nicht wirklich viele Zugriffe auf ihre Beiträge verzeichnet. Bis auf den letzten!

Diesen letzten, es ist ihr fünftes Video, hat sie am 22.08.2013 eingestellt. Seitdem ist es ... tatatataaaa! ... mehr als 19 Millionen Mal abgerufen worden. Und das, obwohl es ein eher trauriger Beitrag ist.

"I Forgot My Phone" ist der Titel dieser fast lautlosen Arbeit. In ihr wird ein Tag im Leben der Charlene deGuzman gezeigt, der nur aus Situationen besteht, in denen ein Mensch sein Phone zur Kommunikation mit irgendwas nutzt (oft auch nur zum Anstarren), während der gelebte Augenblick mit Charlene - und damit sie! - ignoriert wird.

So beginnt der Film damit, dass ein Paar gemeinsam im Bett erwacht, sie wird gar nicht erst wahrgenommen, weil er schon sein Handy checkt. Das wird am Ende des Tages genauso sein: Sie löscht das Licht, man sieht ab da nur noch das bläuliche Glimmen des Phone-Displays. Ein "echter" Gutenachtgruß ist nicht mehr möglich.

"Ich hatte die Idee zu diesem Film", schreibt Charlene in ihrem Blog, "als ich auf einem Konzert meinen Lieblings-DJ sah. Die Leute vor mir hatten die ganze Zeit ihre Phones oben. Sie filmten, nahmen Fotos auf, posteten auf Facebook und Instagram, tweeteten, wie toll das Konzert war."

Aber dabei waren sie gedanklich und emotional gar nicht. Den Moment einzufangen, war wichtiger als ihn zu erleben. So schreibt Charlene in ihrem Blog: "Ich habe jetzt erst schätzen gelernt, den echten Moment zu erleben: Leuten zuzuhören, ihre Gesichter zu sehen, Farben zu sehen, Gerüche wahrzunehmen, Essen zu schmecken - und erst jetzt habe ich begriffen, das jeder, ich eingeschlossen, nur an seinem Phone hängt. Das macht mich traurig. Ich arbeite daran, im Moment zu leben - ohne ihn zu instagrammen. Möchtest du nicht mit mir üben, das zu tun, vielleicht nur einen Tag, nur eine einzige Stunde lang?"

Die folgenden Szenen ihres Videos sind genauso verstörend (aber ganz realistisch, oder nicht?!) wie sein Anfang und das Ende: Menschen ignorieren sich gegenseitig und die Darstellerin Charlene, weil sie während des Essens, beim Bowling, der Geburtstagsparty nur jeweils für sich allein auf ihre Handys starren oder mit irgendwem telefonieren - und eben die unmittelbar Anwesende(n) völlig despektierlich missachten. Am unhöflichsten die Szene, in dem zwei Menschen miteinander anstoßen, aber einer nur sich selbst mit Glas knipst - ein Selfie. Vielleicht kommt der Begriff ja von selfish.

Das Handy so übel wie die Glotze

Dieses Video trifft unsere Display-abhängige Alltagskultur in ihrem Bild-Zentrum, so sehen wir Menschen allerorten: auf Straßen, in Kneipen, in Bahnhöfen, Fliegern, Zügen.

Es scheint, als ob die Welt nur noch erlebt wird, damit Bilder von ihr gemacht werden können, die aneinandergereiht mit den Bildern, die andere von derselben Welt machen, nur Bildsalat ergeben, aber keine Differenz, die individuelles Leben wäre. Denn so reduziert man sich zu Beobachtern einer Lebendigkeit der anderen, die fremd und fremder wird. Kameraleute sind eben nicht Teil der Action.

Obwohl es auch lustige Szenen in dem Clip gibt - das Handanhalten am Strand etwa - ist der überwiegende Teil traurig, am schlimmsten das kleine Mädchen, das eben NICHT schaukelt. "Es macht mich traurig", sagt deGuzman, "dass es Momente in unserem Leben gibt, bedeutende Momente, in denen wir nicht anwesend sind, weil wir auf ein Phone starren."

Offenbar ist Ms. deGuzman nicht alleine mit ihrer Beobachtung - und ihrer Klage. Im April bat Karen O, die Lead-Sängerin der Rock-Band "The Yeah Yeah Yeahs" ihre Fans während eines Konzerts in New York City doch jetzt bitte mal die Handys wegzulegen. Während des "Unsound Festivals" in Polen dürfen keine Aufzeichnungen gemacht werden, weil man keine unmittelbare Dokumentation wünsche und auch keine Ablenkung von dem, was da tatsächlich abgeht. In Brooklyn ist es in einigen Restaurants mittlerweile verboten, so eine Meldung der vergangenen Tage, das Essen zu fotografieren und zu posten. Man hat den Eindruck, die Smartphone-Knipse ist im Begriff zu der über beleumundeten alten Wohnzimmer-Glotze zu werden, die vor 40 Jahren im Begriff stand, vom aktuellen Familienleben abzulenken.

Wenn man die mehr als 14.000 Kommentare überfliegt, die unter Charlene deGuzmans Video mittlerweile aufgelaufen sind, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass viele Zeitgenossen diese neue Phone-Allergie teilen. Ein bisschen over the top sei das Video, aber nicht ganz over the top, schreibt einer "Schaut euch doch nur an, wie viele Menschen in eurer unmittelbaren Umgebung konstant am Phone hängen, vor allem Leute unter dreißig." "Geht mal eine Woche ohne Phone aus dem Haus!", schreibt ein anderer. "It's a life-changer - es verändert euer Leben."

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