Arthur Schnitzlers "Der Reigen" im Marstall:Koitus-Kojoten

Jeder Sexualakt wird zum Gewaltexzess: Patrick Steinwidders bringt eine Hardcore-Version von Arthur Schnitzlers "Der Reigen" im Münchner Marstall auf die Bühne. Provokativ ist das nicht - nur plakativ.

Christine Dössel

Arthur Schnitzlers "Der Reigen" im Marstall: Ein Berg aus hautfarbener Unterwäsche: Auf weicher Grundlage ziehen Sophie von Kessel und Guntram Brattia in den Kampf der Geschlechter.

Ein Berg aus hautfarbener Unterwäsche: Auf weicher Grundlage ziehen Sophie von Kessel und Guntram Brattia in den Kampf der Geschlechter.

(Foto: Thomas Dashuber)

Es gab Zeiten im Theater, da war der Zuschauer in seinem sittlichen Empfinden noch sehr verletzbar; um sich notfalls zu wehren, hatte er Eier und Stinkbomben im Handgepäck. Als im Februar 1921 an den Münchner Kammerspielen Arthur Schnitzlers "Der Reigen" aufgeführt wurde, kam es unter Verwendung dieser Wurfgeschosse zu solchen Tumulten, dass die Polizei das Haus räumen musste. Weitere Aufführungen wurden verboten.

Eier und Stinkbomben wirft heute bei Schnitzlers aktenkundigem Skandalstück niemand mehr, mögen die Sex- und Körperexzess-Szenen auf der Bühne noch so drastisch sein. Was soll uns noch schocken? Die Vergewaltigung da vorne? Haben wir doch alles schon gesehen. Zwar verlassen bei der Premiere im Münchner Marstall einige Zuschauer den Saal, aber sicher nicht, weil das Gesehene so provokativ wäre. Es ist einfach nur unsäglich plakativ.

Patrick Steinwidder heißt der junge Österreicher, der dem Stück mit einer im Vorfeld verheißungsvoll angepriesenen Konzept-Regie die Seele austreibt, ihm den Resonanzboden wegzieht, so dass da leider nichts mehr von dem anklingt, was Schnitzlers "Reigen" zu einem frivol-fragilen Totentanz macht: die Melancholie und stille Trauer darin, die Angst und Einsamkeit der Figuren, ihre Transzendenzlosigkeit, ihre Flucht in den Sex, ihre Sehnsucht nach Liebe, Trost, Halt, nach Dauer und Gültigkeit. Bei Steinwidder bleiben nur: Brutalität, Aggression, Kälte. Animalisches Triebverhalten. Koitus-Kojoten. Jeder Liebesakt: ein Mord- oder mindestens ein Unterwerfungsversuch. "Es gibt keinen Sex zwischen Menschen, nur Macht", lautet das dazugehörige Credo des Regisseurs.

Schnitzler führt im "Reigen" zehn Figuren von unterschiedlichem sozialen Rang vor - im Wien des Fin de siècle -, die sich in zehn Dialogen annähern, umgarnen, bezirzen und dann - "oh . . . oh . . . komm!" - jeweils Sex miteinander haben (der Autor setzt da dezent seine Gedankenstriche): die Dirne mit dem Soldaten, der Soldat mit dem Stubenmädchen, das Stubenmädchen mit dem jungen Herrn, der mit der jungen Frau, die mit ihrem Ehemann, der Ehemann mit dem süßen Mädel, das süße Mädel mit dem Dichter, dieser mit der Schauspielerin, die Schauspielerin mit dem Grafen und der Graf wieder mit der Dirne. Man begehrt, belügt und betrügt einander, vor dem Geschlechtsverkehr ist da diese Gier - und nachher diese Leere. Post coitum omne animal triste.

In Steinwidders textknappem Hardcore-Rammel-Konzept verkörpern Sophie von Kessel und Guntram Brattia sämtliche Erwachsenen-Rollen (vielleicht auch als Sex-Rollenspiel eines gelangweilten Ehepaars, das bleibt offen), ergänzt um die junge Anne Stein als wahrlich süßes Mädel, dessen Lolita-Posing vor einer imaginären Internetkamera zum Highlight wird. In einer Inszenierung, in der alles extrem aufgesetzt wirkt, jeder Gewaltausbruch, jede Leidensmiene, jedes aktualisierende Detail (vom Koks bis hin zur Hakenkreuz-Armbinde beim Sado-Maso-Sex), ist sie ganz bei sich - und sorgt so für die wenigen wahrhaftigen Momente in dieser "Reigen"-Malaise.

Die Bühne von Bob Bailey ist eine Box, über und über gefüllt mit hautfarbener Unterwäsche. Das sieht nach sehr viel weichem Fleisch aus, und der Vorhang aus riesigen Plastik-Lamellen, der diesen Symbolraum umgibt, lässt wohl nicht von ungefähr an einen Kühlraum in einer Schlachterei denken. Seltsamerweise sind Sophie von Kessel und Guntram Brattia auf dieser abstrakten Bühne dann sehr fernsehspielrealistisch und angestrengt psychologisch zugange, üben sich, beide betont verhärmt, sogar in Eheszenen wie aus "Eyes Wide Shut" oder "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?", um immer dann, wenn's zur Sache geht und der Konzeptregisseur grünes Licht zucken und harte Metal-Musik loshämmern lässt, wilde Tötungs- und Gewaltfantasien vorzuturnen. Das ist dann ein Würgen und Stoßen, ein Hauen und Stechen, dass es dafür sogar eine "Kampfchoreographie" (Bret Yount) brauchte. Mehr Kopf- und Herzarbeit und, ganz wichtig: Schauspielerführung wären zielführender gewesen. Man verlässt das Theater gepeitscht und fühlt sich: platt gemacht.

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