Im Anfang war ein Kuss, ein langer, langer Kuss: "Ich träumte heute Nacht, ich wäre beim Fenster, sie käme zu mir und zwar außen vom Fenster. Da war mir plötzlich, ich weiß nicht wie. Ich umarmte sie und küsste sie heiß und sie küsste mich wieder. Und so blieben wir einige Zeit und küssten uns fort und fort. Ich wachte auf, im Traum schon jubelte ich, ich habe sie geküsst - ein Kuss von ihr - und ich wachte auf. In lautes Weinen brach ich aus. Es dämmerte eben, ich war trübe gestimmt, sehr trübe."
Die Lippen, nach denen der 13-jährige Arthur Schnitzler verlangte, waren die seiner Jugendliebe Fanny Reich. Sie blieben realiter verschlossen. Schon in der nächsten Nacht befindet sich der melancholische Knabe wieder "allein in einer dunklen Kammer", schließlich "in einem finstern Gang"; und noch ein halbes Jahrhundert später entfährt ihm die Klage: ". . . es ist so schrecklich, in seinen Träumen mit sich allein zu sein."
Der erträumte Kuss bildet den Auftakt zur wohl faszinierendsten Neuerscheinung dieser Saison, Arthur Schnitzlers Traumtagebuch, geführt von 1875 bis 1931. Passend zum Auftakt endet es damit, dass der Diarist noch wenige Tage vor seinem plötzlichen Tod seiner letzten großen Liebe, der Übersetzerin und Autorin Suzanne Clauser, aus dem eigenhändig mit "Träume" betitelten Konvolut vorliest: Erst da wird ihm bewusst, wie oft ihm in seinen Träumen eine allzu früh "Entschwundene" erschienen ist. Eine andere große Liebe, die Sängerin Marie Reinhard, die - bereits Mutter eines totgeborenen gemeinsamen Kindes - im Alter von nur 22 Jahren unter den Augen ihres hilflosen Geliebten einer Sepsis erlag. Liebe und Tod, Trieb und Trauma begleiteten Arthur Schnitzlers Leben und sein Werk auf Schritt und Tritt, im Wachen und im Schlaf.
Extrahiert ist das Traumbuch aus den rund 8000 Seiten Diarium, das Schnitzler von Jugend an führte und das dank einer editorischen Großtat heute in zehn Bänden geschlossen vorliegt. Die Traumprotokolle nehmen bereits dort eine hervorstechende Rolle ein, an Zahl und Umfang, aber auch aufgrund ihres literarischen Werts als präzisen, oftmals eindringlichen Mikroerzählungen.
Grandioses Wunderwerk
Im Jahr 1921 hatte Schnitzler begonnen, die Traumtexte seiner Sekretärin in die Schreibmaschine zu diktieren. Da er gewöhnlich an mehreren Projekten gleichzeitig arbeitete - am längsten an der berühmten "Traumnovelle", die ihn ganze zwei Jahrzehnte begleitete -, war das Diktat bei seinem Tod erst im Jahr 1927 angelangt.
Die Herausgeber Peter Michael Braunwarth und Leo A. Lensing haben das ursprünglich 428 Seiten umfassende Typoskript um die Traumaufzeichnungen der verbliebenen Jahre aus den Handschriften ergänzt. Was vorliegt, ist das Wunderwerk einer ebenso gut lesbaren wie äußerst sorgfältig kommentierten Edition. Es fehlen nur die Lesebändchen zum unverzichtbaren Nachschlagen zwischen Text, Stellenkommentar und Register: Dort beginnt nämlich jeder neue Buchstabe mit einer ellenlangen Liste von Initialen und Namen - Namen von Schnitzlers im Text durchweg abgekürzten Liebschaften.
Den Herausgebern ist zuzustimmen, dass mit dem Traumtagebuch über die zweite, gewissermaßen die Nachtseite von Schnitzler Biographie hinaus eine unschätzbar reiche Quelle für die "psychologische Geschichte" einer ganzen Epoche erschlossen ist. Da Schnitzler nicht nur das Personal - von Alma Mahler und Peter Altenberg über Hofmannsthal, Kraus und Klimt bis zu Berta Zuckerkandl und Stefan Zweig gehört die ganze Wiener Crème zur Besatzung seines Traumschiffs -, sondern auch die Schauplätze seiner Träume präzise festhält, ist so etwas wie eine zweite Topographie Wiens entstanden.