Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil:Falsche Idylle

Arno Geiger hat ein Buch über seinen demenzkranken Vater geschrieben - und wurde prompt für die Shortlist der Leipziger Buchmesse nominiert.

Christopher Schmidt

Sehr unterschiedliche Autoren haben die Alzheimerkrankheit ihrer Väter literarisch verarbeitet, mal anklagend, mal klinisch und mal romantisierend. Tilman Jens' Buch "Demenz" war eine Abrechnung mit seinem Vater Walter, dem er vorwarf, er habe sich aus Scham über seine Mitgliedschaft in der NSDAP in die Demenz geflüchtet. Jonathan Franzens Essays "Das Gehirn meines Vaters" war der Versuch, "die individuelle Einzigartigkeit von Earl Franzen vor der Generalisierung durch einen benennbaren Befund zu schützen". Und Martin Suters Kriminalroman "Small World" war eine poetische Wiedergutmachung für die Ungerechtigkeit des Lebens.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil: August Geiger ist dement, sein Sohn Arno hat nun ein Buch darüber geschrieben: "Der alte König in seinem Exil".

August Geiger ist dement, sein Sohn Arno hat nun ein Buch darüber geschrieben: "Der alte König in seinem Exil".

(Foto: Hanser Verlag)

Nun hat auch Arno Geiger ein Buch über seinen dementen Vater geschrieben, ein Buch, das auf eine Gattungsbezeichnung verzichtet und gegen Ende immer mehr ausfranst, als habe Geiger den Verlauf der Krankheit in der Struktur des Buches nachbilden wollen. Mit der offenen Form scheint Geiger auf den ersten Blick seinen Respekt vor dem Vater zu bezeugen, dessen Geschichte öffentlich zu machen den Sohn mit begründeter Scheu erfüllt. Doch beim Lesen erweist sich die vorgebliche Scham davor, das Krankheitsbild zu literarisieren, als eine Strategie, um das Tabu konsequent zu unterlaufen.

Vorgebliche Scham

Allzu ausführlich schildert Geiger die Fehlleistungen des Vaters und zitiert ausgiebig seine surrealen Repliken. Er rechtfertigt dies mit seiner professionellen Zuständigkeit. Denn, so schreibt Arno Geiger: "Die Ausdrucksweise beeindruckte mich, ich fühlte mich in Berührung mit dem magischen Potential der Wörter." Einige Seiten später heißt es: "was ihm einfiel, war oft nicht nur originell, sondern hatte eine Tiefe, bei der ich mir dachte: Warum fällt mir so etwas nicht ein. Ich wunderte mich, wie präzise er sich ausdrückte und wie genau er den richtigen Ton traf und wie geschickt er die Wörter wählte." Und schließlich findet er, dass Sätze, wie sie der Vater gesagt hat, "auch ein Held von Franz Kafka oder Thomas Bernhard gesagt haben könnte, ich dachte mir, da haben sich zwei gefunden, ein an Alzheimer erkrankter Mann und ein Schriftsteller."

Der Schriftsteller Arno Geiger fühlt sich durch die Krankheit des Vaters zugleich inspiriert und herausgefordert. Die Inspiriertheit führt dazu, dass er fast auf jeder Seite mit einem bildungshuberischen Zitat prunkt. Der Herausforderung stellt er sich, indem er jedem Kapitel einen kurzen Dialog zwischen Vater und Sohn voranstellt. Dabei setzt Geiger den Vater so in Szene, wie es ehrgeizige Eltern mit ihrem Wunderkind tun: Der Sohn führt Regie und gibt die richtigen Stichworte, und darin liegt schon auch eine unterschwellige Aggression.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, womit sich der Autor nicht abfinden möchte.

Das treueste Kind

Kompensiert wird dieses Ausstellen von Defekten durch gefühlige Einlassungen über die Vergänglichkeit . Zudem überhöht Arno Geiger das Alzheimerleiden zum Sinnbild für die Überforderungen der Gegenwart, zu welcher das Leben des Vaters, der als Gemeindebeamter im ländlichen Wolfurt noch in einer statischen, ja ständischen Herkunftswelt daheim ist, immer schon im Gegensatz stand. Und er betrachtet seine Auflösung als heroische Verweigerung der Zumutungen der Leistungsgesellschaft, als Zeugnis einer stolzen Unverfügbarkeit.

Auch Jonathan Franzen nimmt in seinem Bericht über den Vater immer wieder vorm Krankenbett Reißaus und flüchtet sich in Kulturkritik. Dass bei der Alzheimer-Krankheit die Persönlichkeit lange vor dem Körper stirbt -mit dieser fortschreitenden Entindividualisierung will er sich nicht abfinden. An einer Stelle scheint er Franzen direkt aufgreifen zu wollen. Wenn dieser referiert, "dass der geistige Verfall eines Alzheimer-Patienten die spiegelbildliche Umkehrung der geistigen Entwicklung im Kindesalter darstellt", so hält Geiger dagegen, dass ein erwachsener Mensch sich unmöglich zu einem Kind zurückentwickeln könne, da es zum Wesen des Kindes gehöre, dass es sich weiterentwickle.

Windelweiche Rechtfertigungspirouette

Auch sonst gibt es Parallelen zwischen beiden Texten. Die Familienkonstellation ist ähnlich, die Geschwister wechseln sich bei der Pflege des Vaters ab und empfinden denselben Groll darüber, dass seine Krankheit die Familienproblematik sowohl verstärkt als auch umdreht. Denn der Vater, der sich zuvor nicht öffnen wollte, kann es nun nicht mehr. Bedenkenswerter als die stofflichen Übereinstimmungen sind allerdings die formalen Differenzen. Als betont distanzierter, kühler Erzähler setzt Franzen seinem Thema einen Widerstand entgegen, von dem der Essay nicht nur literarisch profitiert, sondern auch menschlich. Im Gegensatz dazu schiebt Geiger seinen Vater einfach an die Rampe und schöpft den ästhetischen Mehrwert ab, der sich von selbst ergibt. Die Literatur wird zur bloßen Gehilfin der Empathie, und das bekommt weder ihr selbst noch ihrem Gegenstand gut.

Beide Autoren vergleichen den Vater mit Shakespeares König Lear, was bei Franzen durch die anagrammatische Namensvetternschaft von "Earl" und "Lear" nahe gelegt wird. Bei der Krone, die Geiger seinem Vater so demonstrativ und titelgebend aufs Haupt drückt, bleibt immer klar, dass er sie nur von Gnaden des Sohnes empfängt - und so fragt man sich, ob Geigers Vatererhöhung nicht im Grunde eine verbrämte Abrechnung ist. Ehrlicher jedenfalls wirkt die schroffe Art und Weise, wie Jonathan Franzen seine Unfähigkeit zu trauern dem Leser einfach vor die Füße wirft, bis hin zu jener Episode, als der Vater im Sterben liegt und der Sohn sich alle Zeit der Welt nimmt, bevor er ins Krankenhaus fährt. Auch Arno Geiger hat sich Zeit gelassen, allerdings beim Schreiben dieses Buches, von dem er sagt: "ich habe sechs Jahre darauf gespart". Andererseits habe er damit fertig werden wollen, solange der Vater noch lebt, weil dieser wie jeder Mensch ein Schicksal verdient habe, das offenbleibt, so Geiger gönnerhaft.

Bei dieser pseudoempfindsamen Geste handelt es sich jedoch um eine windelweiche poetologische Rechtfertigungspirouetten. Denn Geiger hat sich das Buch nicht zusammengespart, sondern dafür den Vater ausgeplündert. Als er einmal zwecks Recherche von der Schwester wissen will, was sie von ihren Besuchen beim Vater zu berichten habe, winkt diese nur ab: sie finde dessen Verlöschen nicht interessant, sondern zum Weinen. Die Frau hat Recht, und hier gibt es einen echten Bezug zu Shakespeares "König Lear". Dort erweist sich nämlich gerade das Kind als das treueste, das seine Vaterliebe am wenigsten auf den Lippen trägt.

ARNO GEIGER: Der alte König in seinem Exil. Hanser Verlag, München 2011. 192 Seiten, 17,90 Euro.

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