Arne Dahl ist das Pseudonym des schwedischen Autors Jan Arnald. Er arbeitet für die Schwedische Akademie, die den Nobelpreis für Literatur vergibt. Seine eigenen Bücher sind zwar auch schöne Literatur, aber mehrheitlich Thriller. In viele Sprachen übersetzt wurden die meisten, preisgekrönt und verfilmt sind einige. Dahl hat bisher international ermittelnde Teams Verbrechen lösen lassen. In seinem jüngsten Krimi "Sieben minus eins" aber besinnt er sich wieder auf das klassische Ermittlerduo. Allerdings, und das macht den besonderen Reiz dieses Falls in schwedischen Wäldern, Sümpfen und Dörfern aus, findet das Duo erst nach einem dramatischen Verhör zueinander. Dahl, Jahrgang 1963, wurde in der Provinz Stockholms län geboren, hier spielt auch "Sieben minus eins". Im Interview mit dem hervorragend Deutsch sprechenden Erfolgsautor, das vor Bekanntwerden des Ausgangs der US-Wahl stattfand, geht es um diese Rückbesinnung auf das Lokale und um das Ethos des Krimiautors in Zeiten einer postfaktischen Politik.
SZ: In Ihren Büchern gibt es oft brutale Gewalt . Ist das wirklich nötig?
Arne Dahl: Wenn man Fragen großer Kriminalität behandelt, muss das auch für die Leser erkennbar werden. Es muss sich schrecklich anfühlen, sonst wird es Unterhaltungsgewalt. Dann landet man wieder bei der Leiche in der Bibliothek und Agatha Christie. Kein Schmerz, kein Blut ...
Geruchlose Leichen ...
Genau. Gewalt hat aber keinen Eigenwert. Ich empfinde keinen Genuss, solche Szenen aufzuschreiben. Vielleicht sind manche Krimiautoren ein bisschen sadistisch. Ich bin es nicht. Aber eine Geschichte großer Gefühle, großen Leidens kann ich nicht zensieren. Ich kann schwere Dinge nicht leichter machen. Sind die Verbrechen brutal, muss auch der Text diese Brutalität benennen. Ich mache da nichts bekömmlicher. Schließlich behandeln Krimis die großen, absoluten Fragen von Leben und Tod, Recht und Unrecht, Schuld und Sühne. Die Religion hat diese Fragen früher behandelt. Wenn Krimis Gewalt nur androhen, verlieren sie diese existenzielle, fast eschatologische Dimension.
Sie haben sich in Ihrem neuen Buch von den großen Ermittlerteams verabschiedet, der A-Gruppe und Europol . Jetzt haben wir es mit einem Ermittlerpaar zu tun, das nicht nur, aber stark von seinem Bauchgefühl geleitet wird . Das aber auch von den Dämonen einer eigenen Vergangenheit getrieben ist, die ganz und gar nicht großartig verl ief. Diese Traumata führen sogar dazu, dass - in einer großartigen Szene - der verhörende Kommissar selber zum Verhörten wird.
Es freut mich, dass diese Szene offenbar so gut funktioniert. Tatsächlich ist das Buch um diese Verhörszene herum entstanden. Normalerweise sind die Machtverhältnisse bei einem Verhör eindeutig geklärt. Man erwartet, dass der Kommissar das Gespräch beginnt und beendet, es führt und lenkt. Die klassische Konstellation der Kontrolle. Die Situation kippt hier aber, weil die Frau, die verhört wird, nicht die ist, für die der Kommissar sie hält. Sie spielt ihre Rolle nur und vermittelt dem Kommissar den Eindruck, dass er trotz seiner ganzen Erfahrung etwas Entscheidendes übersehen haben muss. Er glaubt, er hat alles im Griff, hat er aber nicht. Tatsächlich ist diese Molly Blom selber Polizistin in einer Spezialeinheit. Die Ermittlung wird dann stark von den beiden unterschiedlichen Charakteren vorangetrieben.
Dazu mussten Sie auf gewohnte narrative Muster verzichten.
Ich bin gut darin, mafiöse Strukturen zu schildern und Gesellschaften zu zeigen, die deren Verbrechen aufkommen lassen. Aber um die menschliche Natur und die Charaktere meiner neuen Ermittler beschreiben zu können, musste ich alles dichter, kleiner und lokaler anlegen. Weg von der Konzentration auf die Außenwelt und die mächtigen Organisationen hin zu den Motiven der Handelnden, also zu ihrer Psyche. Werden wir als Tabula rasa geboren oder gibt es in uns angeborene böse und gute Seiten? Das waren so die Fragen.
Darum spielen Mobbing und Schulhof-Torturen jetzt eine entscheidende Rolle?
Die Frage war, was geschieht mit einem Menschen, der in seiner Kindheit schlimmsten Anfeindungen ausgesetzt ist. Wie stark beeinflussen ihn die Gefühle von Scham und Erniedrigung noch als Erwachsenen? Hier befördern sie eine Rache, die übermächtig wird und ihren Ausdruck in den zerreißenden Kräften einer großen tickenden Kirchturmuhr findet.
Das Moment einer Bewegung von exakt im Kreis laufenden Zeigern gibt es auch in den Motiven.
Ja. Alle Handelnden sind zu Wiederholungen ihrer Schuld und ihrer Erinnerungen daran gezwungen. Darum tauschen sie die Rollen des Täters und des Opfers und geben sie wie im Kreis an den Nächsten weiter. Die schlimmen Zeiten kommen immer wieder zurück. Die gewohnten Filter bekommen Risse. Die Zeit ist ein Kreis. Wie ein Ziffernblatt.
Im Text ist das so gelöst, dass traumatische Urszenen aus der Kindheit der Protagonisten erst nur anerzählt und dann nach und nach vervollständigt werden. Bis ein Bild von Rache, Überschreitung und Raserei gezeichnet ist. Es ist wie eine Anamnese von Verstrickung, die dem ermittelnden Kommissar Sam Berger zunächst gar nicht präsent ist.
Das Buch beginnt mit der Erinnerung an einen hellen Sommertag, Kinder rennen durch zitterndes Espenlaub zu einem Bootshaus am See, so könnten wunderbare Ferien beginnen. Das zweite Kapitel nimmt dieses Espenlaub auf, aber wir haben einen großen Zeitsprung gemacht, nun stehen wir an der Schwelle zu einem Tatort, und eines dieser Sommerkinder ist der ermittelnde Kommissar.
Und der merkt, wie sich seine Erinnerungen verfärben, dass etwas in seinem Leben schiefgelaufen ist. Sein Selbstbild lässt sich nicht mehr halten ...
Diese Figur durchläuft eine Entwicklung vom Macho-Bullen zu einer gebrocheneren, menschlicheren Gestalt. Ich habe früher nie diese psychischen Kräfte und diese Art von Dynamik untersucht.
Müssen Kommissare Beschädigte sein, um gute Kommissare sein zu können?
Auf jeden Fall. Wer immer in Dunkelheit und Finsternis ermitteln muss, kann keine Lichtgestalt sein. Sie brauchen ihre schlechten Erfahrungen, auch ihre niederen Beweggründe und Gedanken. Dann werden sie bessere Ermittler. Die Figuren Berger und Blom stellen den Versuch dar, zwei verschiedene Formen von psychischer Deformation auszumalen.
Das Buch lässt einige Fragen offen. Es gibt am Ende sogar eine neue Tote. Da kommt also noch etwas, oder?
Ja, diese Geschichte war nur der Anfang.
Die einzige krypto-sexuelle Szene im Buch ist der drastische Übergriff des jungen Sam Berger auf dem Schulhof, wo er seinen einstigen Freund aus Rache foltert. Eine sehr brutale Szene.
Ja, ich wollte erstens zeigen, dass Sam Berger nicht nur feige ist, sondern auch schuldig. Und zweitens wird seine Schuld wieder zum Grund für Rache.
Alle Arten von Uhren spielen eine Rolle. Eine öffnet sogar die entscheidende Tür. Warum Uhren?
Am Anfang ist Zeit für Sam Berger eine wertvolle Armbanduhr. Sie läuft mechanisch, sie ist kontrollierbar, kompliziert, aber verständlich. Er weiß, wie sie funktioniert, wie sein Leben funktioniert. Doch plötzlich bildet sich in der Uhr Kondenswasser. Er kann die Zeit nicht mehr lesen. Die Brechung der Figur beginnt. Und die Zeit wird subjektiv und mächtig. Darum werden die Uhren auch immer größer - und gefährlicher.
Gibt es denn so etwas wie Katharsis oder Erlösung?
Das Ende suggeriert dies. Zum ersten Mal scheint die Sonne. Aber das war mir dann zu langweilig. So konnte es nicht aufhören. Es gibt noch viel Ungelöstes.
Erweitern Sie den Erzählraum jetzt wieder in internationale Dimensionen?
Ich habe jetzt eine Geschichte erzählt, die mehr oder weniger lokal bleibt. Eine Bewegung - nicht nur geografisch - von außen nach innen. Aber ich habe mein Interesse an der internationalen politischen Gegenwart nicht verloren. Ich ziehe mich nicht zurück, auch wenn meine Geschichte dort spielt, wo ich selber aufgewachsen bin.
Also kein symbolischer Rückzug ins Private hinter Grenzzäune und Mauern?
Nein, die populistischen Strömungen, die das Nationale hochleben lassen, lehne ich ab. Ich bin begeisterter Europäer. Der Brexit hat mich geschockt. Was ich im aktuellen Buch suche, ist nicht Heimat, sondern das Innere. Das Thema, das ich hier behandle, hat mit der menschlichen Natur zu tun. Es ist zeitlos, und es könnte überall spielen.
Es gibt das aktuelle Schlagwort "post-truth politics", politisches Agieren, das sich um Wahrheit und Fakten nicht schert. Wie stehen Sie dazu? Ermittler arbeiten ja an nichts anderem als daran herauszufinden, was wirklich geschehen ist. Ist der Kriminalkommissar also zu einer anachronistischen Figur und Metapher geworden?
Kriminalliteratur behandelt den Sieg der Rationalität über das Chaos. Das ist der geschlossene Vertrag mit dem Leser. Es ist am Anfang alles schrecklich, blutig, chaotisch. Aber es gibt die Lösung, die Wende zum Besseren. Das ist, was ich als Krimiautor verspreche. Die Fakten gewinnen, eine konstruktive Vernunft deckt sie auf. Daran glaube ich auch zu einhundert Prozent. Die Post-Wahrheit steht für das Chaos. Es scheint gerade, dass Aufklärung und Zivilisation unterliegen. Überall, in Deutschland, auch in Schweden. Donald Trump kann schier alles behaupten. Wie ist es dazu gekommen? Ich glaube, dass dies die Rache derjenigen ist, die mitbekommen haben, dass ihr mangelndes Wissen sie zurückfallen lässt. Derjenigen, die auf dem Schulhof um sich schlugen. Und jetzt haben sie einen großen Anführer, der sagt: Das ist völlig in Ordnung so.
Die Stunde der Verschwörungstheorien.
Genau. Für einen Krimiautor sind Verschwörungen herausfordernd. Die Idee, dass Fakten nicht existieren, weil du denkst, du wirst belogen. Von Politikern, Wissenschaftlern, der Justiz. Ein Albtraum. Ich bleibe auf Seiten der Rationalität, der Fakten. Intuition ist da so etwas wie kondensierte Erfahrung.
Würden Sie sich als Autor im Dienst der Aufklärung begreifen?
Krimiautoren sind Romantiker genug, das Bedrohliche faszinierend zu finden. Doch Krimis sind das Genre der Aufklärung: Am Ende muss alles leuchtend gelöst sein. Denn sonst gibt es keine Zukunft.