Debüt aus Argentinien:Der Traum vom Messer in der Hand

Landleben I: Ariana Harwicz' Roman "Stirb doch, Liebling" ist ein atemloser Text und eine Szene familiären Grauens.

Von Tillmann Severin

Das Landleben ist eine ideale Projektionsfläche. Heimatfilme, Zeitschriften aus der Landlust-Ecke und der mehr oder weniger geheime Traum vieler Städter, aufs Land zu ziehen, wenn die Abgase zu viel, die Mieten zu hoch oder die Partygänger zu laut werden, machen aus "dem Land" einen utopischen Ort. Auf der anderen Seite hat sich aber mit Filmen wie "Kinder des Zorns" zum Beispiel, der 1984 nach einer Kurzgeschichte von Stephen King gedreht wurde, ein ganzes Horrorgenre entwickelt, in dem jemand aus der Stadt aufs Land gerät und statt der grünen Idylle im Hygge- und Dirndlschick gruselige Landbewohner vorfindet, die an archaischen Bräuchen festhalten und die urbanen Fremden lieber als Ritualopfer töten denn als Neuankömmlinge willkommen heißen.

Auch in der Gegenwartsliteratur, von Lize Spits Debüt "Und es schmilzt" (2016), in dem die Provinz zum Gefängnis für die heranwachsende Erzählerin wird, bis zu Dörte Hansens Bestseller "Mittagsstunde", findet man das Land nicht unbedingt als freundlichen Ort vor. Theodor W. Adorno schrieb 1966 in "Erziehung nach Auschwitz" über die Entbarbarisierung, die auf dem Land weniger vorangeschritten sei als in der Stadt: "Die immer noch fortdauernde kulturelle Differenz von Stadt und Land ist eine, wenn auch gewiss nicht die einzige und wichtigste, der Bedingungen des Grauens." Nun ist die heutige Landbevölkerung in Deutschland und den meisten europäischen Staaten sicher eine andere geworden. Und doch gibt es kaum eine Debatte über Populismus und die Veränderung in der Parteienlandschaft, in der nicht über die Kluft zwischen Stadt und Land gesprochen würde.

Auch Ariana Harwicz widmet sich in ihrem Debüt "Stirb doch, Liebling" dem Leben auf dem Land. Der Roman der argentinischen Autorin, 2012 auf Spanisch erschienen und jetzt von Dagmar Ploetz ins Deutsche übersetzt, spielt in Frankreich. Er wurde für den Man-Booker-Preis und den Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin nominiert, also für zwei der bedeutendsten internationalen Auszeichnungen für Belletristik.

Es gibt kein Kippmoment, in dem die Idylle bricht, sie ist schlicht nicht vorhanden

Das Interesse wäre wahrscheinlich nicht so groß, wenn Harwicz nicht die Ambivalenz des Landlebens zwischen Lust und Horror in dunkelsten Farben zeichnete. Sie stellt die unangenehmen Seiten nicht als Kehrseite des guten Lebens dar, sondern lässt das Landleben von vornherein ausschließlich abscheulich erscheinen. Es gibt kein Kippmoment, in dem die Idylle bricht, sie ist schlicht nicht vorhanden. Und jede Lust, die im Roman vor allem sexueller Natur ist, führt nur tiefer hinein in das Grauen.

Debüt aus Argentinien: Es kann einem ja, bei aller Idylle des Landlebens, schon mal bange werden ums Herz: So zeigte zum Beispiel der Jean-François Millet, Maler des fanzösischen Realismus, etwa 1873 die Gegend nahe dem Örtchen Chailly-en-Bière, das man ganz in der Ferne sieht. Die Wolken kleben am Horizont und die Landwirtschaft macht offensichtlich Arbeit.

Es kann einem ja, bei aller Idylle des Landlebens, schon mal bange werden ums Herz: So zeigte zum Beispiel der Jean-François Millet, Maler des fanzösischen Realismus, etwa 1873 die Gegend nahe dem Örtchen Chailly-en-Bière, das man ganz in der Ferne sieht. Die Wolken kleben am Horizont und die Landwirtschaft macht offensichtlich Arbeit.

(Foto: mauritius images / Old Visuals)

So legt die Erzählerin sich im ersten Satz "auf das Gras zwischen umgestürzten Bäumen", das Wetter ist sonnig, doch anstatt irgendetwas zu genießen, die Wärme, den Schatten oder das Summen der Bienen, fantasiert sie einen Sonnenstrahl, der auf ihre Hand fällt, zu einem Messer, mit dem sie sich die Pulsadern aufschneiden möchte. Die Familie ist ganz in der Nähe, doch es ist nicht klar, ob das Entsetzen von ihr ausgeht oder schon vorher da war: "Wie konnte es sein, dass ich, eine schwache, gestörte Frau, die von einem Messer in der Hand träumte, Mutter und Ehefrau dieser beiden Wesen war?"

Da ist also eine mittelständische, akademisch gebildete Kleinfamilie auf dem Land, die Selbstmord- und Mordfantasien hervorruft. Wenn der Mann nicht auf Dienstreise ist, pinkelt er zu Hause in den Garten und schafft auch noch einen Hund an, der wiederum ins Haus pinkelt. Die Schwiegermutter nebenan erscheint als wandelnde Halbtote, und ihr Mann, der vor Kurzem gestorben ist, hat vor seinem Ableben Pläne geschmiedet, wie er die Maulwürfe im Garten mit Gas ermorden will: "die Schoa der Maulwürfe". Ein Nachbar hat sich, wie sein Vater und davor der Großvater, mit einem Schuss in den Hintern umgebracht, und eine Nachbarin "verdient ihren Lebensunterhalt damit, den Arsch zu zeigen", natürlich im Internet. Das Kleinkind spendet auch keinen Trost, es ruft in der Mutter nur Befremden hervor.

Etwas passt nicht zusammen: Was will eine so bildungshungrige Frau von einem solchen Mann?

Leider fehlt diesem Grauen ein Gegengewicht. In Harwicz' Erzählung wird alles unerträglich. Das scheint der Figur angemessen, spätestens, als sie sich selbst in eine Klinik einweist, wird klar, dass sie unter einer psychischen Krankheit leidet, aus der sie offenbar keinen Ausweg sieht. Dazu passt, dass der Text in kürzere Teile von ein paar Seiten gegliedert ist, ansonsten aber keine Absätze hat, als gäbe es keine Atempause. Das entspricht vielleicht dem Zustand der Erzählerin, in einem literarischen Text sorgt diese Dauereskalation jedoch dafür, dass die einzelnen Sequenzen kaum in ihrer Drastik kaum hervorstechen. Das macht es schwerer, die Gewalt der dörflichen Depression angemessen ernst zu nehmen. "Nach dem Bäuerchen", heißt es über das Baby, "wird der Kleine zum toten Gewicht, die Hände baumeln, die Lider werden schwer, sein Atem verlangsamt sich. Ich lege ihn in meinen Schal gekrallt hin, und während ich ihn einwickle, Isadora Duncan."

Der Tod, der im Roman überall lauert, die Gewalt, die hier in einem harmlosen Gegenstand wie einem Schal steckt, sind so präsent, dass man kaum noch an die archetypische Niedlichkeit denkt, für die ein schlafendes Kind unter anderen Umständen stehen könnte. Mit anderen Worten: Das Klischee, an dem sich Harwicz abarbeitet, ist selbst schon gar nicht mehr da. Und dann fällt auch noch unvermittelt der Name Isadora Duncan. Man muss wissen, dass die amerikanische Tanzlegende, die den Tod dreier Kinder zu beklagen hatte, in einem offenen Sportwagen starb: sie wurde stranguliert, als sich ihr Seidenschal in einer Felge verfing. So ganz ohne Erklärung zeigt dieser Name aber nur, dass die Erzählerin über breite kulturelle Bildung verfügt.

Debüt aus Argentinien: Ariana Harwicz: Stirb doch, Liebling. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. C.H. Beck Verlag, München 2019. 125 Seiten, 18,95 Euro.

Ariana Harwicz: Stirb doch, Liebling. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. C.H. Beck Verlag, München 2019. 125 Seiten, 18,95 Euro.

Und der Ehemann, der sonst in den Garten pinkelt, schenkt seiner Frau zum Geburtstag ein Buch von Virginia Woolf. Da passt etwas nicht zusammen. Was will eine Frau, die so bildungshungrig ist wie diese Erzählerin, von einem solchen Mann? Zumindest würde man gerne mehr über die Umstände erfahren, unter denen die Mesalliance zustande kam. Einen Blick für die sozialen und ökonomischen Umstände dieser missglückten Landfamilie würde man sich wünschen. Eine Außenwelt gibt es nicht in dieser Geschichte. Zwar kann eine Nachbarin ihr Hinterteil vor der Webcam zeigen, aber die Familie der Erzählerin scheint noch nicht mal Internet zu haben.

In Interviews hat Ariana Harwicz autobiografische Züge des Romans von sich gewiesen, aber doch den Hinweis gegeben, dass sie sich in ein Haus auf dem Land eingeschlossen und in der unerträglichen Langeweile geschrieben habe. So liegt der Verdacht nahe, dass sich doch etwas Erfahrung in den Roman geschlichen hat: die Künstlichkeit einer Schreibsituation, in der die Autorin sich zurückzieht und aus der Leere, als eine poetische Nabelschau, eine Fantasie patriarchischer Unterdrückung und weiblicher Lust erschafft.

Auch wer aus sich selbst schöpft, wiederholt Strukturen, die außerhalb seiner selbst vorhanden sind. Harwicz treibt genau das auf die Spitze. Nur fehlt ihrem Dauerfeuer des Grauens die Folie eines soziologischen Blicks. Obwohl die Erzählerin von sich behauptet, sie sei immer besser in der Theorie als in der Praxis gewesen. Sie bezieht das aber nicht etwa auf ihr Nachdenken über sich selbst, sondern auf Sex. Und ist damit schon wieder tief verstrickt im Narzissmus.

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