"Argentina, 1985" auf Amazon Prime:Nie wieder!

"Argentina, 1985" auf Amazon Prime: Umgeben von Feiglingen, Faschisten und "Superfaschisten": Ricardo Darín als Bundesstaatsanwalt Julio Strassera.

Umgeben von Feiglingen, Faschisten und "Superfaschisten": Ricardo Darín als Bundesstaatsanwalt Julio Strassera.

(Foto: AP)

Der Film "Argentina, 1985" über den damaligen Gerichtsprozess gegen die abgesetzte Militärjunta zeigt, wie eine Demokratisierung gelingen kann: langsam und mühsam, mit einem lustvollen Ende.

Von Philipp Bovermann

Es ist keine große Szene, einfach nur ein wichtiger Mann, der zur Tür hereinkommt. "Zunächst einmal möchte ich mich bedanken", sagt er und gibt Julio Strassera, dem obersten Strafverfolger Argentiniens, die Hand. "Was Sie getan haben, hat vielen Mut gegeben." Strassera hört wortlos zu, während er an seiner Zigarette zieht.

Seine zusammengekniffenen Augen und sein Körper scheinen zu verschwinden hinter der gewaltigen Brille und einem der robocopmäßig geschnittenen Herrenanzüge der Achtzigerjahre; die Haare sind zurückgegelt. Der ganze Mann wirkt gepanzert, aber zerbrechlich, wachsam wie eine Eidechse. "Danke" und "Ich weiß das zu schätzen", sagt er, während der Besucher ihm mitteilt, dass man seine Arbeit für historisch halte.

Der Besucher will natürlich etwas von ihm. Er kommt im Auftrag des Präsidenten und bittet in dessen Namen, dass der große Gerichtsprozess, den Strassera gerade vorbereitet, abgeblasen werden möge - historisch hin oder her. Eine Szene, die sich 1985 in Argentinien real so zugetragen hat, zwei Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur. Als noch unklar war, ob die Verbrechen dieses Regimes vor Gericht jemals aufgearbeitet werden würden.

Die argentinische Demokratie ist damals noch wackelig, sie spürt den Atem der Armee im Nacken. Nun aber sollen deren Kommandeure wegen Folterungen und Verschleppungen angeklagt werden, und sie erkennen das Gericht nicht an. Eine hochgefährliche Lage: Findet der Prozess statt und das Militär fühlt sich in die Ecke gedrängt, könnte es neues Blutvergießen geben. Findet er aber nicht statt, stehen die Kommandeure des Terrors weiter über dem Gesetz. Bundesstaatsanwalt Julio Strassera, damals Anfang fünfzig, bekommt gewaltigen Druck von allen Seiten. Aber er wird den Prozess führen - und dabei über sich hinauswachsen.

Dennoch: Der Film "Argentina, 1985", der nun auf Amazon Prime Video läuft, ist keine Heldengeschichte. Deshalb nähert man sich seiner Essenz auch über die vielen kleinen, so ganz und gar nicht auftrumpfend inszenierten Szenen wie die eben beschriebene, in denen Regisseur Santiago Mitre dasselbe tut wie seine Hauptfigur Julio Strassera und wie Ricardo Darín, der Strassera - herausragend - spielt: Er hält sich zurück, stellt sich in den Dienst der Sache.

Während der Diktatur hat er geschwiegen, sonst säße er nicht auf diesem Posten

Was sind Gerichtsdramen nicht üblicherweise für Laufstege! Die Studios lieben das Genre, weil sie günstig zu produzieren sind und die Schauspieler auf engem Raum gut zur Geltung kommen, während sie glühende Reden abfeuern. Dieser Strassera aber ist kein Mann großer Worte, er ist ein geduckter Bürokrat, der - sehr zu Recht - um seine Sicherheit und die seiner Familie fürchtet. In einer Szene sagt er über sich, dass Geschichte nicht von Männern wie ihm geschrieben werde. Während der Diktatur hat er geschwiegen, sonst wäre er nicht auf diesem Posten. Aber es gibt in ihm und um ihn herum Kräfte des Guten, die dem Film eine nach und nach aufkeimende Leichtigkeit verleihen.

Da kehrt etwa Strassera eines Abends heim, wie üblich düster brütend, das Telefon klingelt, er hebt ab. Was er hört, bestätigt seine schlimmsten Befürchtungen: Der anonyme Anrufer droht ihm und seinen beiden Kindern mit dem Tod. Die Kinder möchte Strassera unbedingt raushalten. "Nur noch wir beide gehen ans Telefon", ruft er seiner Frau zu, als er aufgehängt hat. Die aber marschiert im Hintergrund geschäftig durchs Bild, offenbar mit etwas anderem beschäftigt. Ob das wieder der "Drohtyp" gewesen sei, fragt sie. Ach, der rufe schon den ganzen Tag an. Ob der denn nichts Besseres zu tun habe?

"Argentina, 1985" auf Amazon Prime: Junge Anwälte gegen alte Terrorgeneräle - die Ankläger in "Argentinia, 1985".

Junge Anwälte gegen alte Terrorgeneräle - die Ankläger in "Argentinia, 1985".

(Foto: Amazon Studios/Prime Video)

Überall gibt es Hilfe, und neben Feigheit auch viel Mut. Strassera braucht ein Team, um Beweise gegen die Kommandeure heranzuschaffen. Wer soll ihm helfen? Die Polizei steht dem Militär zu nahe. Also geht Strassera mit einem Freund die infrage kommenden Justizbeamten durch, einen Kandidaten nach dem anderen sortieren sie in die Kategorien derer, die sich raushalten wollen, die zu alten, die bereits gestorbenen, die Faschisten und die "Superfaschisten", um am Ende entnervt zu seufzen. Bis sie auf die Idee kommen, junge Leute ranzuholen, die mit diesem Land noch etwas vorhaben.

Möglichst viele der Opfer will das so gegründete Team befragen, um zu zeigen, wie systematisch gefoltert und gemordet wurde: Methode Materialflut. Auch darin folgt Regisseur Santiago Mitre seiner bescheiden arbeitenden Hauptfigur. Er möchte, so erscheint es, vor allem zeigen, was damals passiert ist. Ausführlich kommen die Opfer als Zeugen vor Gericht zu Wort, in die nachgespielten realen Berichte sind immer wieder Originalaufnahmen aus dem Gerichtssaal eingefügt. Das Material gewinnt gegen das Böse: Nicht so sehr die offensichtlich von oben befohlene Systematik der Verbrechen gibt am Ende den Ausschlag, sondern dass die Öffentlichkeit Prozesstag für Prozesstag hört, welche Unmenschlichkeiten während der Diktatur begangen wurden. So bröckelt allmählich der Rückhalt für das Militär in der Bevölkerung.

Ein wahrhaft demokratischer Film ist nicht schaulustfeindlich

"Argentina, 1985" ist ein mutiges, optimistisches, auf seine Art eben doch heldenhaftes Plädoyer für die Kraft des Erzählens und des Films. Auf dessen Mittel vertraut Regisseur Santiago Mitre so vollständig, dass er sich alle Effekthascherei verkneift, ohne aber sich oder seiner Hauptfigur zum Finale eine wuchtige, zu Tränen rührende Rede zu versagen. Es ist ein demokratischer Film über eine zu sich selbst findende Demokratie, der die Konstellationen von Menschen und Ereignissen sichtbar macht, die Verschwundenen, die unsichtbaren Wunden. Als ein demokratischer Film ist er aber auch nicht schaulustfeindlich. Worum es hier geht, soll jeden rühren und erreichen dürfen.

"Nunca más", sagt Staatsanwalt Julio Strassera am Ende seines Plädoyers, "nie wieder". Es folgt ein Moment der Stille, in dem er, der biedere Beamte, die kastengroße Brille abnimmt und die Augen zusammenkneift, dann sind Originalaufnahmen des klatschenden Gerichtssaals zu sehen, Menschen mit Tränen in den Augen, die sich von den Stühlen erheben, die rufen und jubeln, Musik setzt ein, "nunca más", man möchte mit aufstehen.

Argentina, 1985, 2022 - Regie: Santiago Mitre. Buch: Mariano Llinás, Santiago Mitre. Kamera: Javier Julia. Schnitt: Andrés P. Estrada. Musik: Pedro Osuna. Mit: Ricardo Darín, Juan Pedro Lanzani, Alejandra Flechner, Norman Briski. Amazon Prime, 140 Minuten. Streaming-Start: 21.10.2022.

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