Architektur von Stuttgart 21:Wo ist das Guckloch im Beton?

Stufe ins Nichts: Vom wichtigsten Bahnhof zwischen Historismus und Moderne bleibt nur noch ein sinnloser Rest. Der neue Entwurf ersetzt das Alte nicht.

Gottfried Knapp

Die monatelangen friedlichen Proteste gegen "Stuttgart 21" haben das politische Klima in Deutschland verändert, doch das bekämpfte Bauprojekt haben sie allenfalls verzögern, nicht aber dauerhaft stoppen können. Was immer in den kommenden Wochen an "Stresstesten" vorgenommen wird - am Ende werden die vorgesehenen Hoch- und Tiefbauten am Stuttgarter Hauptbahnhof und auf dem freigeräumten Bahngelände zwischen Innenstadt und Rosensteinpark wohl genau in jenem Rhythmus und in jenen Grundformen errichtet, die lange vor den Protesten schon festgelegt worden sind. Aus diesem Grund soll hier noch einmal dargelegt werden, was sich die Stadt mit diesen Baumaßnahmen antut.

Stuttgart 21 - Modell Bahnprojekt

Absurde Idee: Um die düstere Niedrighalle zu humanisieren, die unter der bisherigen Haupthalle entsteht, soll der Boden der oberen Halle aus Glas angefertigt werden.

(Foto: dpa)

Als Paul Bonatz im Jahr 1914 mit dem Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs begann, musste er, um die 16 parallel geführten Gleise am abfallenden Talhang auf einheitlichem Niveau in die Bahnsteighalle einlaufen zu lassen, das Gleisbett und die davor quergestellte große Empfangshalle von Norden nach Süden hin so aufsockeln, dass die Halle von Norden her ebenerdig betreten werden konnte.

Auf der Südseite aber musste die Bahnsteig-Ebene sechs Meter hoch über das Niveau des angrenzenden Schlossgartens gehoben und entsprechend massiv abgestützt werden. Um diesen unnatürlichen Geländesprung aufzufangen, hat Bonatz einen langen viergeschossigen Gebäuderiegel mit mächtig vorspringenden risalitartigen Kuben vor diese Kante gestellt. Vor das aufgesockelte südliche Ende der Empfangshalle aber hat er den Bahnhofsturm postiert, der dem horizontal ausladenden Ensemble einen vertikalen Akzent gibt.

Im Zusammenspiel mit dem in Richtung Stadtmitte vorstoßenden hohen Trakt der Schalterhalle formieren sich der Turm und der angehängte Südflügel des Bahnhofs zu einem kraftvoll rhythmisierten Ensemble, das sich wie ein in den kubischen Formen der frühen Moderne gebauter Eisenbahnzug am Schlossgarten entlangzieht. Von diesem architektonisch eindrucksvollen Monument des Eisenbahnzeitalters, dieser baukünstlerischen Antwort auf die Lokomotiv- und Wagenfolge eines Zugs, werden nach der Beseitigung des Südflügels nur die abgehängte, nutzlos gewordene "Lokomotive" an der Spitze - also Schalterhalle und Turm - übrigbleiben. Direkt am Fuß des Turms aber wird der gewaltige Baukörper des quergelegten, zur Hälfte in die Erde versenkten künftigen Durchgangsbahnhofs hervorschießen und den angrenzenden Schlossgarten bis zur gegenüberliegenden Talseite zerschneiden.

Ebenerdiger Zugang

In diesem neuen Bahnhof werden die Besucher, die aus der Innenstadt kommen, nicht mehr zu den Bahnsteigen hinaufsteigen müssen; sie werden die Brücken und Rolltreppen, die sie zu den abgesenkten, querverlaufenden Bahnsteigen bringen, zu ebener Erde und von mehreren Seiten aus erreichen, was den Zugang zu den Zügen entschieden erleichtern wird. Auch die in der Nachbarschaft anlegenden Nahverkehrsmittel S und U werden künftig sehr viel direkter mit dem Fernverkehr verknüpft sein.

Für den verbleibenden Rest des Bahnhofgebäudes freilich ist die neue Verkehrsführung schlicht fatal. Man könnte den Bonatz-Bau mit seiner hochgelegenen Empfangshalle, mit den beiden aus der Stadt auf sie zuführenden Querschiffen und der zum Bahnhofsvorplatz sich öffnenden hohen Pfeilerhalle als die architektonisch monumentale Ummantelung einer nach oben führenden Stufe beschreiben, einer Stufe, die beim Umbau jeden Sinn verliert, weil die Wege aus der Stadt zu den Zügen nicht mehr nach oben, sondern vom Erdgeschoss aus nach unten führen.

Kalkulierte Abwertung des Bahnhofs?

Um also den querliegenden massig-hohen Gebäuderiegel durchlässig zu machen, muss die gebaute Stufe aufgebrochen, ja durchlöchert werden. In den beiden Zugangshallen werden die Treppen also zu schmalen Aufgängen schrumpfen; die oberen Podeste aber werden wie Emporen wirken, unter denen breite Durchgänge in die bislang lichtlose Kellerzone und unter der Querhalle hindurch bis zu den Zugangsbrücken des neuen Bahnhofs führen. Um die so unter der bisherigen Haupthalle entstehende düstere Niedrighalle zu humanisieren, hat man schon mit der absurden Idee gespielt, den Boden der oberen Halle aus transluzentem Glas zu fertigen.

Doch was immer mit der Substanz des Altbaus angestellt wird - von der lebendig gestaffelten Architekturkomposition, vom wichtigsten Bahnhofsbau zwischen Historismus und Moderne, wird nur ein sinnloser Rest und auch von dem nur die durchlöcherte Hülle übrigbleiben. Warum sollen Pendler, die den künftigen Bahnhof benutzen, oder Stuttgart-Besucher, die es in die Museen oder Theater zieht, in die zwecklos gewordene alte Bahnhofshalle hinaufsteigen: etwa um durch die acht mächtigen Rundbogentore, die früher zu den Gleisen geführt haben, auf den gigantischen Betondeckel des neuen Bahnhofs zu blicken? Nur mit massiven Einbauten lässt sich die offene Wandelhalle in eine Shopping Mall umbauen - aber dann ist das Denkmal endgültig vernichtet.

Die Deutsche Bahn hat in den letzten Jahren in vielen historischen Bahnhofsgebäuden - in Leipzig oder Dresden etwa - vorgeführt, wie sich stilgerecht restaurierte historische Hallen mit neuen Einbauten zu Ensembles von großer Lebendigkeit aufwerten lassen. Beim Stuttgarter Hauptbahnhof hat die Bahn seit Jahrzehnten jede Schönheitsreparatur und jeden sinnvollen Einbau verhindert; sie wollte das Gebäude, das sich seiner Rustica-Bewehrung wegen leicht als Nazibau verunglimpfen lässt, offensichtlich baukünstlerisch weiter abwerten, um so den Befürwortern des Totalumbaus Argumente zu liefern.

Der planmäßigen Beschmutzung des Altbaus entsprechen auf der anderen Seite die Lügen bei der Darstellung der zu errichtenden Bauten. In den offiziellen Werbebroschüren duckt sich der gigantische Sarg des künftigen Querbahnhofs so diskret in die Erde, dass man den Eindruck hat, die beiden durch den Einbau getrennten Parkteile würden an der Oberfläche wieder harmonisch zusammenwachsen. In Wahrheit zieht sich ein 400 Meter langer, 100 Meter breiter und 12 Meter hoher Betonschlauch quer über den gesamten Talboden, also auch quer durch die grüne Schneise des Schlossgartens.

Am alten Bahnhofsturm, wo einer der Hauptdurchgänge durch den neuen Acht-oder-zehn-Gleise-Trakt sein soll, ragt der Riegel immer noch sechs Meter aus der Erde. Nimmt man die über dem Deckel vier Meter hoch aufsteigenden Lichtaugen hinzu, erhebt sich das Bauwerk, auf dessen Betonschale außer Rollrasen nichts gedeihen wird, zehn Meter hoch über das Niveau des Schlossgartens. In den Prospekten aber wird so getan, als könne man künftig über die versenkte Spieleisenbahn bequem ebenerdig hinweg schlendern.

Im offiziellen "Planfeststellungsbeschluss" versteigen sich die Stadtpolitiker sogar zu der Behauptung, dass der dicht mit riesigen Lichtaugen bedeckte Betonwall, der aus der Luft wie eine Panzersperre vor der Innenstadt aussehen wird, die Stadt- und Parklandschaft nicht beeinträchtige.

Spiegelung der Trostlosigkeit

Ganz anders ist zu beurteilen, was auf den riesigen freiwerdenden Bahnflächen zwischen Hauptbahnhof und Rosensteinpark und auf dem Rangiergelände am Nordbahnhof geplant ist, wenn der gesamte Bahnverkehr in ein kompliziertes System von Tunneln verbannt ist. In den ersten Simulationen nach der Erarbeitung des Grundkonzepts hat sich die Bahn noch eine üppige Maximalbebauung des wertvollen Grundes erträumt. Direkt hinter dem tiefliegenden Querriegel des neuen Hauptbahnhof sollte sich das klotzige "Europaviertel" erheben, eine Massierung austauschbarer Bürohochhäuser, die sich unversöhnlich hart am gesamten Mittleren Schlossgarten entlanggezogen hätte.

Landschaftsschutz vs. Investoreninteressen

Höchst spekulativ wäre es mit "höherwertigem Wohnen" in pompösen Stadthäusern entlang dem Unteren Schlossgarten im geplanten "Rosensteinviertel" und im Nordbahnhofviertel weiter gegangen. Doch inzwischen hat die Stadt das gesamte Spekulationsgelände erworben; und seither wird wenigstens an einigen Stellen der Versuch gemacht, die privaten Interessen der herbeigelockten Investoren mit den öffentlichen Interessen des Landschaftsschutzes zu versöhnen.

Im Europaviertel setzt die Stadt zwar, wie unsere Abbildung aus der Ausstellung im Rathaus zeigt, noch ganz auf maximalen Ertrag. Die Bauverantwortlichen der Stadt scheinen also damit einverstanden zu sein, dass die architektonischen Trostlosigkeiten, die sich nach dem Krieg vor dem Hauptbahnhof angesammelt haben, quasi gespiegelt hinter dem Bahnhof wiederkehren. Doch weiter draußen wagen sie nicht mehr so dreist gegen die umgebende Parklandschaft vorzugehen.

Dass die Geländestufe zwischen dem Schlossgarten und dem Bahngelände künftig eingeebnet werden könnte, ist durchaus verlockend, doch wenn man sich vorstellt, dass sich an dieser Kante eine ähnliche Unzahl banalster Spekulationsobjekte erhebt wie neuerdings entlang der Einfahrt in den Münchner Hauptbahnhof, dann wünscht man sich sofort die Brückenbauten zurück, auf denen die Züge derzeit in den Stuttgarter Hauptbahnhof einlaufen.

Zunächst muss sich Stuttgart auf die schrecklichste Baustelle seiner Geschichte einstellen. Wenn am Bahnhof demnächst die Bahnsteige provisorisch ins weichendurchsetzte Gleisvorfeld hinausgeschoben werden und die Fahrgäste 100 Meter lange Notbrücken überqueren müssen, dürften, zumindest was den öffentlichen Frust angeht, neue Maßstäbe gesetzt werden.

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