Süddeutsche Zeitung

Architektur:Voll im Plan

Die Nachfrage nach Architekten wächst immer weiter, große Firmen suchen händeringend Nachwuchs. Noch vor Kurzem rangelten die Büros dagegen um Aufträge.

Von Gerhard Matzig

Jacques Herzog und Pierre de Meuron könnte man als die erfolgreichsten Architekten der Gegenwart bezeichnen. Ob Elbphilharmonie (Hamburg), Olympiastadion (Peking) oder Tate Modern (London) - weltweit gelten ihre Häuser als Goldstandard des Bauens. Was auch bedeutet: Normalerweise stehen die Absolventen vor dem Schweizer Hauptquartier von H&dM Schlange. Dort, an der Rheinschanze 6 in Basel, kann man sich ja auch sehr schön aufstellen entlang des Flusses. Allerdings, die Zeiten sind nicht normal. Und zwar weder in der Schweiz noch in Deutschland. Aus Deutschland pilgern üblicherweise die besten Jungarchitekten nach Basel. Aber auch das ist vorbei.

In Deutschland wollen besonders viele Menschen Baumeister werden

Weshalb man das aktuelle Jobangebot von H&dM, veröffentlicht in der Zeitschrift Bauwelt, als historisches Dokument begreifen darf. Man sucht in Basel neue Mitarbeiter. Gerne aus Deutschland. Sonst war man dort immer darum bemüht, nicht gefunden zu werden von all jenen, die anheuern wollten. Im Baunetz, das ist das größte deutschsprachige Online-Forum für Architektinnen und Architekten, sind derzeit Hunderte von bemerkenswerten Jobs ausgeschrieben. Auf der Suche sind Christoph Mäckler in Frankfurt, Jürgen Mayer H. in Berlin oder Nickl & Partner in München. Das sind namhafte Büros, erste Adressen. Berichtet wird, dass gesuchte Talente bei Jobverhandlungen in München schon mal nachfragen, ob da nicht noch eine Jahreskarte für die Allianz-Arena drin sei - schließlich habe man ja noch andere Angebote. Ein gesuchtes Talent am Bau müsste man sein.

Dabei gibt es davon genug. Im letzten Wintersemester waren an den Hochschulen mehr als 50 000 Studierende in den Fächern Architektur, Innenarchitektur, Landschafts- oder Stadtplanung eingeschrieben. Das sind rund 20 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Deutschland ist ein Hauptproduzent von architektonischem Nachwuchs. Und ein Hotspot der Architektendichte: Hierzulande gibt es so viele Architekten wie - zusammengezählt - in Österreich, Spanien, Portugal, Griechenland, Niederlande, Schweden und Belgien. Allein in Bayern leben fast so viele Architekten wie in ganz Frankreich. Und trotzdem dürsten die deutschen Büros nach immer mehr Arbeitskräften. Seltsam.

Der Architektenrausch heute ist auch deshalb so verblüffend, weil sich die Branche noch vor anderthalb Jahrzehnten in depressiver Katerstimmung befand. Im Jahr 2003 glaubte der damalige Präsident des BDA (Bund Deutscher Architekten), dass "rund ein Drittel" der freiberuflich tätigen Architekten "am Abgrund" stehe. Die Bezahlung sei hierzulande mies, die Auftragslage zum Heulen - und die Perspektiven für Berufsanfänger elend.

Und heute? Heute verknüpfen die Berufsanfänger in München ihre Perspektiven mit der Aussicht auf ein Bayernspiel in der Allianz-Arena, während die Bayerische Architektenkammer erstmals Deutschkurse für Planer aus dem Ausland anbietet. Das Land mit der zweithöchsten Architektendichte (nach Italien) fängt sogar an, zusätzliche Kräfte zu importieren. Die Entwicklung von der Krise zur Party in wenigen Jahren ist beachtlich.

Natürlich gibt es auch eine simple Erklärung für das heutige Architekten-Dorado. Die Bauwirtschaft boomt mit enormer Intensität - und diesem Zyklus folgen naturgemäß auch die Gestalter. Das spüren nicht die Architekten allein, das gilt auch für Fliesenleger oder Trockenbauer. Im Houzz-Branchenreport heißt es mit Blick auf die Architekturbranche jedoch: "Mindestens ein Viertel der Unternehmen melden, dass 2016 das beste Jahr der vergangenen zehn Jahre war." Eine aktuelle Studie des Ifo-Instituts zur Auftragssituation der freischaffenden Architekten bestätigt das: "Vor einem Vierteljahr sah es bereits so aus, als sei im Sommer des vorigen Jahres der ,Gipfelpunkt' des seit 2003 anhaltenden Aufwärtstrends erreicht. Aber in der aktuellen Umfrage lag der Wert des Klimaindikators nochmals um zwei Prozentpunkte höher als vor einem halben Jahr." Was die Auftragslage angeht: Die sei so gut wie seit 27 Jahren nicht mehr.

Damals bescherte die Wiedervereinigung den deutschen Architekten einen Bauboom als Sonderkonjunktur. Übrigens: Die Wiedervereinigung und die Wiederaufbauphasen nach zwei verlorenen Weltkriegen begründen auch die ungewöhnliche Architektendichte.

Dennoch erklärt die gegenwärtige Emsigkeit am Bau nicht allein die gewaltige Nachfrage nach jenen Fachleuten, die man schon abschreiben wollte. Erst im Oktober 2010 erschien die Schrift vom "Ego des Architekten" - als sarkastische Abrechnung mit einem Berufsstand, der sich komplett verlaufen habe und sich daher überflüssig mache. 2012 folgte dann ein Buch mit dem provozierenden Titel "Brauchen wir noch Architekten?" Klare Antwort: Eher nicht - und schon gar nicht die, die wir haben. Zuletzt, 2015, forderte eine Streitschrift gar: "Verbietet das Bauen!" In all diesen Büchern erscheint der schöpferische Architekt wie die Karikatur seiner selbst. Diesem theoretischen Abgesang auf einen der ältesten und angesehensten Berufe der Geschichte steht nun aber die praktische Nachfrage nach immer mehr Bau-Menschen gegenüber. Allein das Florieren der Wirtschaftssparte "Bau" vermag so einen drastischen Wandel kaum zu erklären.

Gerade noch rechtzeitig: Wie sich eine ganze Branche neu erfunden hat

Eher gelingt dies mit Blick auf die Studieninhalte, die sich ebenfalls seit einiger Zeit stark verändert haben. Wurden früher vor allem kreative Entwerfer an den Architekturabteilungen der Hochschulen ausgebildet, die im Zweifel später mal Kathedralen oder wenigstens das Wohnen von morgen gestalten würden, so sind das heute auch Klimadesigner, Baurechtler oder Immobilien-Ökonomen. Das Studium der Architektur wurde geerdet. Gerade rechtzeitig, könnte man sagen.

Denn die Architekten haben zuvor viel eigenes Terrain kampflos preisgegeben. Die energieeffiziente Sanierung (eine der wichtigsten Bauaufgaben der Gegenwart) wurde plötzlich von Klimaberatern und nicht mehr von Architekten erledigt. Und die Bauleitung von komplexen Vorhaben überließ man Ökonomen, während die Ingenieure dort zunehmend den Architekten den Rang abliefen, wo es um die Weiterentwicklung von Konstruktionsweisen und neue Materialien geht.

Zur Zeit des antiken Baumeisters Vitruv galten Architekten als Ingenieure, also Techniker, und Künstler in einem. In der Moderne hat sich diese Balance zugunsten der Künstler verschoben. Nun schlägt das Pendel zurück und bringt auch die Architekten insgesamt wieder auf Kurs. Am Bau braucht man Expertise. Nicht nur Extravaganz.

Man kann froh sein über die jetzt wieder starke gesellschaftliche Nachfrage nach eben dieser Kompetenz, die - wohlgemerkt - zugleich eine der Ästhetik wie der Technik ist. Die Verstädterung der Welt und der Klimawandel: Das sind die großen Herausforderungen der Zeit. Architekten haben im Grunde mit beidem zu tun. Sie sind zu wichtig, um sich marginalisieren zu lassen. Nun müsste man sie nur noch angemessen entlohnen.

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Quelle:
SZ vom 19.05.2017
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